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Ausstellung 2018:
Mary Shelleys Frankenstein Kreatur - zurück in Ingolstadt
Vortrag von Dr. Wolfram Benda

 
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre und Freude, Sie heute anläßlich der Ausstellung Zurück in Ingolstadt: Frankensteins Kreatur begrüßen zu dürfen und Ihnen einige grundlegende Informationen zu den Hintergründen des Romans Frankenstein or The Modern Prometheus von Mary Wollstonecraft Shelley aus dem Jahre 1818 geben zu können. Mein besonderer Dank gilt dabei dem Veranstalter, der Stadt Ingolstadt, vertreten durch den Oberbürgermeister, Herrn Dr. Lösel und Frau Dr. Schönewald.
Ich habe meinen Vortrag in folgende Sektionen eingeteilt: I. Biographischer Abriß II. Entstehungs- und Textgeschichte III. Kurze Inhaltsangabe IV. Prometheus-Mythos V. Deutung als Gothic Novel und Philosophischer Roman VI. Rolle der Naturwissenschaft VII. Beziehung zu Ingolstadt.
Die Übersetzung der Passage aus John Miltons Epos Paradise Lost stammt von Johann Jacob Bodmer (Zürich 1742), die übrigen Texte habe ich selbst übersetzt.

I. Biographischer Abriß

Mary Shelley wurde am 30. August 1797 in London geboren und starb dort am 1. Februar 1851. Ihre Eltern waren beide Schriftsteller: der Vater William Godwin (1756 – 1836), überzeugter Republikaner und Anhänger der Französischen Revolution, Begründer des Sozialismus und Anarchist, verfaßte Romane, Traktate und politische Pamphlete; die Mutter, Mary Wollstonecraft (1759 – 1797), eine der ersten Frauenrechtlerinnen, schrieb u.a. Vindication of the Rights of Women (1792), eine Verteidigung der Rechte der Frauen, die damals und bis zum Ende des viktorianischen Zeitalters so gut wie rechtlos waren: so war es ihnen untersagt, Besitz oder ein Bankkonto zu haben, an der Universität zu studieren oder zu wählen. Vor der Eheschließung war der Vater stets Vormund der Frau, danach der Ehemann.
In einem musischen Elternhaus unter Büchern aufgewachsen und mit einem Freundeskreis, der viele Künstler und Schriftsteller, u.a. die Romantiker Coleridge, Lamb und Hazlitt einschloß, wurde bald von der jungen Mary erwartet, daß sie ebenfalls Schriftstellerin werden sollte, was ihr in der Tat gelang. Zu ihrem Werk zählen Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Essays, Gedichte, Rezensionen, Biografien und Reiseberichte. Sie gab zudem das Werk ihres früh verstorbenen Ehemanns Percy Bysshe Shelley, eines herausragenden Vertreters der englischen Romantik, heraus.

Marys Mutter starb bereits elf Tage nach der Geburt ihrer Tochter, was dieser zeitlebens tiefe Schuldgefühle verursachte, die sich in gewisser Weise auch in Frankenstein niederschlagen, der u.a. auch als Familiengeschichte gelesen werden kann. Im Schmerz, seine Ehefrau verloren zu haben, mag William Godwin die Geburt seiner Tochter als tragischen Fehler angesehen haben; vielleicht auch deshalb war die Beziehung zu Mary distanziert. Zudem waren die Eltern davon ausgegangen, einen Sohn zu bekommen, weshalb sie sich bereits vor der Geburt für den Vornamen William entschieden hatten. Frankenstein ist die Geschichte eines Geschöpfes, das darunter leidet, vom ersten Atemzug an verstoßen und nicht geliebt zu sein. So ist es sicher kein Zufall, daß sein erstes Opfer der geliebte Sohn William ist.
William Godwin zog seine Tochter gemeinsam mit ihrer älteren Halbschwester Fanny Imlay (die noch im Herbst 1816 Selbstmord beging) selbst auf, die durch ihn und seine zweite Ehefrau Mary Jane Clairmont eine gründliche Erziehung erhielten. 1814, mit 15 Jahren, verliebte sich Mary Godwin in den verheirateten Percy Bysshe Shelley, einen Bewunderer der Werke ihrer Mutter und Anhänger der politischen Ideen ihres Vaters. Gemeinsam mit ihrer Stiefschwester Claire Clairmont folgte die erst 16-jährige Mary Godwin Percy Shelley auf eine Reise durch Europa. Bei ihrer Rückkehr war sie schwanger. Während der nächsten zwei Jahre war das unverheiratete Paar wegen seiner offen unkonventionellen Lebensweise gesellschaftlich geächtet.

Den Sommer 1816 verbrachte es gemeinsam mit Lord Byron, John William Polidori und Claire Clairmont am Genfersee. Dort entwarf Mary Godwin ihren Roman Frankenstein. Am 30. Dezember 1816, wenige Wochen nach dem Selbstmord von Percy Shelleys erster Ehefrau Harriet, heiratete das Paar in London. 1818 ließen sich die beiden für längere Zeit in Italien nieder, wo 1822 Percy während einer Segeltour im Golf von La Spezia ertrank. Ein Jahr später kehrte Mary Shelley mit ihrem letztgeborenen und einzigen überlebenden Kind nach England zurück, wo sie erfolgreich ihre Karriere als Schriftstellerin fortsetzte. Ihr letztes Lebensjahrzehnt ist von Krankheiten gezeichnet. Im Alter von 53 Jahren starb sie vermutlich an einem Gehirntumor.

II. Entstehungs- und Textgeschichte

Wie bereits angedeutet, reisten im Mai 1816 Mary Godwin und Percy Shelley gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn und Claire Clairmont erneut in die Schweiz, um den Sommer am Genfersee zu verbringen. Das Reiseziel war von Claire Clairmont vorgeschlagen worden, die hoffte, dort Lord Byron wieder zu treffen. Die beiden hatten in London eine kurze Liebesaffäre gehabt und Claire Clairmont war von dem berühmt-berüchtigten romantischen Dichter schwanger. Der von seinem Leibarzt John Polidori begleitete Lord Byron war zwar überrascht, am Genfersee auf Claire Clairmont zu treffen, freundete sich aber rasch mit Percy Shelley an, der das kleine „Maison Chapuis“ in Cologny gemietet hatte. Lord Byron bezog wenige Tage später die große und elegante Villa Diodati in der Nachbarschaft. Während sich ein Schweizer Kindermädchen um William, den kleinen Sohn Marys, kümmerte, verbrachten die fünf Erwachsenen einen großen Teil ihrer Zeit mit gemeinsamem Lesen, Schreiben und Bootsausflügen. Ihre wechselseitigen Besuche blieben der englischen Öffentlichkeit nicht verborgen, da der Genfersee ein beliebtes Reiseziel vermögender Engländer war. Die fünf Personen wurden von neugierigen Sommergästen sogar mit Teleskopen beobachtet, während der englischen Presse der Sommeraufenthalt der fünf willkommenen Anlass bot, sich erneut über den gotteslästerlichen William Godwin und seine unmoralisch lebenden Töchter zu äußern.

Mary Shelley erinnerte sich in einem fünfzehn Jahre später verfassten Vorwort zur dritten, überarbeiteten Ausgabe von Frankenstein (1831, in einem Band), dass der Sommer am Genfersee nass, stürmisch und gewitterreich war. Nicht enden wollender Regen zwang die Gruppe, für Tage im Haus zu bleiben. Um sich die Zeit zu vertreiben, unterhielten sich die fünf über den Naturphilosophen und Dichter Erasmus Darwin, den Großvater von Charles Darwin, der angeblich in Experimenten tote Materie belebt hatte, über Galvanismus und über die Möglichkeit, künstliches Leben zu schaffen. Vor dem Kaminfeuer in Lord Byrons Villa lasen sie einander nachts deutsche Schauergeschichten in französischer Übersetzung vor. Lord Byron machte schließlich den Vorschlag, jeder solle eine eigene Schauergeschichte zur Unterhaltung beisteuern. Mary Shelley behauptet in ihrem Vorwort, ihr, die damals nicht einmal 19 Jahre alt war, sei, im Gegensatz zu den übrigen Gesprächsteilnehmern, bei Tage nichts eingefallen, bis sie schließlich einen Wachtraum gehabt habe:

„Die Nacht schwand über diesen Gesprächen, und selbst die Geisterstunde war vorüber, ehe wir uns zur Ruhe begaben. Als ich mein Haupt auf das Kissen bettete, schlief ich nicht, noch hätte man von Meditieren sprechen können. Ungeheißen überwältigte und leitete mich meine Einbildungskraft und verlieh den auf mich einstürzenden Bildern, die meinen Geist erfüllten, eine alle Grenzen der Träumerei sprengende Lebendigkeit. Mit geschlossenen Augen, jedoch im Geist scharf konturiert, sah ich den fahlen Jünger verruchter Künste neben dem Ding knien, das er zusammengesetzt hatte. Ich sah das scheußliche Trugbild eines hingestreckten Mannes, danach, wie sich durch das Wirken einer mächtigen Maschine Lebenszeichen zeigten und er sich mit schwerfälligen, mechanischen Bewegungen rührte. Schrecklich mußte es sein; denn mehr als schrecklich würde die Wirkung allen menschlichen Strebens sein, die wundervolle Einrichtung des Weltenschöpfers zu verhöhnen. Sein Erfolg würde dem Künstler Angst einjagen; voll Grauen würde er seine abscheuliche Schöpfung fliehen. Er würde hoffen, dass, sich selbst überlassen, der schwache Lebensfunke, den er übertragen hatte, verglömme; daß dieses Ding, das so unvollkommene Beseelung erfahren hatte, zu lebloser Materie würde; und er im Glauben schlafen könnte, dass die Stille des Grabes die flüchtige Existenz des scheußlichen Leichnams, in dem er die Quelle des Lebens gesehen hatte, für immer ersticken würde. Er schläft; doch er wird geweckt; er öffnet die Augen; siehe da! das grauenvolle Ding steht neben seinem Bett, zieht die Vorhänge auf und starrt ihn mit gelben, wässrigen, dennoch wißbegierigen Augen an.“

Es besteht Anlaß zur Skepsis an dieser Version der Entstehungsgeschichte. Mary Shelley schrieb sie zu einem Zeitpunkt nieder, als sie sicher sein konnte, dass niemand ihr widersprechen werde; zudem spekulierte sie darauf, dass eine gute Geschichte zum Erfolg des Buches beitragen könne. John Polidoris detailliertes Tagebuch berichtet, dass abgesehen von ihm selbst, jeder sofort an einer Erzählung zu arbeiten begann. Es könnte deshalb sein, dass Mary ihre Version der Entstehungsgeschichte bei S. T. Coleridge entlehnte, der 1816 in ähnlicher Weise die Entstehung seines überwältigenden Fragments „Kubla Khan“ beschrieben hatte.

Ermutigt von Lord Byron, versuchte Percy Shelley einen Verleger für den Text seiner Frau zu finden. Nach einigen Absagen wurde Frankenstein schließlich von Lackington & Co. angenommen, die bereits einige Bücher mit okkulten und übernatürlichen Stoffen veröffentlicht hatten, so auch die englische Übersetzung der deutschen Geistergeschichten, die den Ghost Story Contest am Genfersee inspiriert hatten. Der Briefwechsel zwischen Percy Shelley und Lackington zeigt, daß Percy Shelley die Autorschaft des Romans verschwieg und der Verleger annahm, Shelley sei der Autor. Am 1. Januar 1818 erfolgte die Veröffentlichung von Frankenstein in einer Auflage von 500 Exemplaren in drei Kleinoktavbänden, die heute von Sammlern gesucht und ungemein kostbar sind. Das Buch erschien ohne Angabe eines Verfassers, aber mit einem Vorwort von Percy Shelley und war William Godwin gewidmet. Kritiker und Leser schlossen daraus, dass Percy Shelley der Verfasser sein könnte. Obwohl Sir Walter Scott den Roman in seiner Besprechung lobte, war er zunächst kein Verkaufserfolg, später aber vergriffen und brachte mehr Geld ein als alle bisherigen Publikationen Percys zusammen. Die Neuausgabe von 1823, von William Godwin in zwei Bänden herausgegeben, enthielt neben Änderungen in Schreibung und Zeichensetzung 114 substantielle Varianten und zum ersten Mal den Namen des Verfassers; das Motto aus Paradise Lost fehlt ebenso wie in der dritten Ausgabe von 1831. Deutlich läßt sich eine Tendenz zur Versachlichung feststellen, überschwengliche Empfindsamkeit und Gefühlsschwelgerei wurden gemildert oder gestrichen.

Da der Mythos Frankenstein in den 1820er Jahren immer bekannter wurde (auch durch fünf erfolgreiche Theateradaptionen, darunter eine mit dem Titel Presumption, or the Fate of Frankenstein in London im Jahre 1823, in Paris 1826) und deshalb eine Neuausgabe erfolgversprechend schien, gelang es Mary Shelley, den Verleger Richard Bentley zu überzeugen, den Roman 1831 in seine Reihe Bentley´s Standard Novels aufzunehmen. Für diese Veröffentlichung in einem Band unterwarf sie den Text einer grundlegenden Überarbeitung und verfaßte das bereits zitierte Preface. Der Erfolg war überwältigend: bereits am ersten Tag war das Buch so gut wie ausverkauft, und kurz darauf folgten auf die Erstauflage von 4500 Exemplaren weitere 5000 Exemplare.

Die umfangreichen Änderungen für 1831 zeichnen sich vor allem durch folgende Charakteristiken aus: Die politisch radikale, jakobinische Sicht wird durch eine politisch konservative ersetzt und die Radikalität der Fabel domestiziert. So ist Victor nicht mehr mit Elizabeth verwandt, sie ist ein Findling, der in die Familie aufgenommen wurde, wodurch die inzestuösen Anklänge durch das konservative viktorianische Frauenideal des Angel in the House ersetzt wurden. Zudem wird das Prinzip von Schicksal und Bestimmung, im Gegensatz zur ersten Ausgabe, dem Prinzip des freien Willens vorgezogen. Die Tendenz zur Ohnmacht des Menschen seinem Schicksal gegenüber läßt die Neuausgabe wesentlich pessimistischer erscheinen.

Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war die Version von 1831 der einzig verfügbare Frankenstein-Text, bis Literaturwissenschaftler die Bedeutung und Qualität der ursprünglichen Fassung entdeckten und diese veröffentlichten.

III. Kurze Inhaltsangabe

Der Roman, der dem Genre der Gothic Novel (deutsch Schauerroman) und in gewisser Weise der conte philosophique (wie auch der 1787 erschienene orientalische Roman Vathek des jungen William Beckford) zuzuordnen ist, weist eine komplizierte Erzählstruktur auf. In die Rahmenhandlung – Briefe des jungen Forschers Walton – sind autobiographische Berichte Frankensteins und seines Geschöpfs eingebettet, so daß die Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven von drei Erzählern vorgetragen wird. Sie beginnt mit den Briefen von Robert Walton an seine Schwester. Er reist zu Schiff, um eine Passage zum Nordpol zu entdecken, jedoch hat das Eis der Arktis ihn und die Mannschaft eingeschlossen. Während der Wartezeit beobachten sie, wie eine riesenhafte Person auf einem Hundeschlitten nach Norden eilt. Am nächsten Morgen nehmen sie einen Mann an Bord, der schwerkrank und am Ende seiner Kräfte ebenfalls nach Norden wollte. Es ist Victor Frankenstein, der von Walton die nächsten Tage gepflegt wird. Als er sich langsam erholt und den fatalen Ehrgeiz in den Augen seines Retters erkennt, beginnt er, ihm seine Lebensgeschichte zu erzählen.

Victor fiel bereits in seiner Kindheit in Genf durch seine Intelligenz auf und war von einem unstillbaren Wissensdurst getrieben, Eigenschaften, die ihn mit Goethes Faust und Zauberlehrling verbinden. Schon als Schüler kam er in Kontakt mit den Werken der Alchemisten Cornelius Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus. Doch bald mußte er einsehen, dass deren Wissen überholt und fehlerhaft war. Mit 17 reiste er nach Ingolstadt, um dort Naturwissenschaften (englisch Natural Philosophy) zu studieren. Hin- und hergerissen zwischen alter Naturmystik und moderner Wissenschaft, fand er durch seine Ingolstädter Lehrer und seine eigenen Forschungen wieder Zugang zu den alten Vorbildern und entdeckte schließlich das Geheimnis, wie man toten Stoffen Leben einhaucht.

Überwältigt von dieser Erkenntnis beschloss er, ein menschliches Wesen zu erschaffen. Monatelang trug er rastlos die notwendigen Materialien und Apparaturen zusammen und lebte nur für seine Aufgabe. Groß und mächtig sollte es werden, doch unterliefen ihm entscheidende Fehler und Mißgriffe, die zur Folge hatten, daß er von seiner eigenen Schöpfung angeekelt war, so hässlich und furchteinflößend wirkte sie. Entsetzt floh er aus dem Labor und traf dabei auf seinen Jugendfreund Henri Clerval. Dieser war ihm nachgereist, um gemeinsam mit ihm zu studieren, auch weil er sich wegen des Ausbleibens von Nachrichten Sorgen um Victor machte. Als beide in Wohnung und Labor eintrafen, war das Geschöpf verschwunden.

Victor, von der monatelangen Überarbeitung und dem Schock schwer mitgenommen, erkrankte an Nervenfieber, und nur der fürsorglichen Pflege Henris war es zu verdanken, dass er überlebte. Nach seiner Genesung widmete er sich gemeinsam mit seinem Freund wieder den Studien und verdrängte alle Gedanken an seine Schöpfung. Kurz bevor er im nächsten Sommer seine Familie in Genf besuchen wollte, erreichte ihn ein Brief seines Vaters mit der Mitteilung, dass sein junger Bruder William ermordet worden sei. Noch in der Nacht seiner Ankunft erblickte er eine riesenhafte Gestalt und war sofort davon überzeugt, dass sein Geschöpf der Täter gewesen sein muß. Doch Justine, Hausmädchen und Gesellschafterin der Frankensteins, wurde des Mordes bezichtigt, weil ein Medaillon, das William zum Zeitpunkt seines Todes getragen hatte, bei ihr gefunden worden war. Trotz der nachdrücklichen Fürsprache von Victor und Elizabeth wurde Justine für schuldig befunden und hingerichtet.

Victor, dem der wahre Täter bekannt war, flüchtete sich in den nächsten Tagen in Schuldgefühle und Selbstmitleid, wagte es jedoch nicht, die Wahrheit zu offenbaren. Stattdessen unternahm er weite Streifzüge in die Umgebung, um sich abzulenken. Dabei traf er auf das von ihm geschaffene Wesen, das ihm erzählte, wie es durch das versteckte Beobachten einer Bauernfamilie sprechen und lesen gelernt hatte. Doch obwohl es der Familie im Winter durch das Hacken von Brennholz und die Beseitigung des Schnees heimlich geholfen hatte, gerieten die Bauern in Panik, als sie es tatsächlich sahen. Sie schlugen es und flohen dann vor ihm. Wütend und enttäuscht versuchte es daraufhin, seinen Schöpfer ausfindig zu machen.

Dessen Lebensgeschichte und Wohnort war ihm durch Victors Tagebuch bekannt, das es bei seiner Flucht aus dem Labor mitgenommen hatte. Bei der Konfrontation mit seinem Schöpfer gab es zwar zu, William erwürgt zu haben, doch sei dies lediglich ein unglückseliger Unfall gewesen, da es nur die Hilfeschreie des Knaben verhindern wollte und seine Kräfte zu stark waren. So sah es sich als Opfer widriger Umstände, und nur die Ablehnung der Menschen habe in ihm das Böse entfacht. Daher bat es Victor, ein zweites Geschöpf zu erschaffen, eine Frau. Es erhoffte sich, durch sie Liebe und Zuneigung zu erfahren, was die menschliche Gesellschaft ihm verweigerte. Gemeinsam würden sie weitab von jeder Zivilisation ihr restliches Leben verbringen. Von den Worten des Wesens gerührt und auch um seine Schuld ihm gegenüber zu sühnen, willigte Victor ein.

Unter einem Vorwand reiste er gemeinsam mit Henri nach England und weiter nach Schottland, um auf einer kleinen Insel der Orkneys sein Werk zu vollenden. Doch befielen ihn Zweifel, da er befürchtete, das zweite Wesen könnte genauso schlecht und böse werden wie das erste. Zudem argwöhnte er, die beiden könnten Kinder zeugen, welche Generationen später eine Bedrohung für die Menschheit werden könnten. Daher vernichtete er sein fast vollendetes Werk vor den Augen des Geschöpfs, das ihm heimlich gefolgt war. Rasend in seinem Zorn und seiner Wut erwürgte dieses daher aus Rache Henri und versuchte, den Mord Victor in die Schuhe zu schieben, was ihm misslang. Victor kehrte nach Genf zurück und heiratete seine geliebte Elizabeth. Doch das Geschöpf, empört über Victors abermaligen Versuch, Trost und Liebe zu finden, während es selbst für den Rest seines Lebens allein und ausgestoßen bleiben musste, ermordete die Braut noch in der Hochzeitsnacht. Als wenige Tage später Victors Vater, durch die vielen schweren Unglücksfälle gezeichnet, an gebrochenem Herzen starb, entschloß sich Victor, sein Geschöpf zu jagen und zur Strecke zu bringen. Wild entschlossen folgte er der Spur, die es ihm hinterlassen hatte, bis in die weiten Eiswüsten der Arktis. Abgezehrt und schwerkrank traf Victor schließlich auf das Schiff Waltons.

An dieser Stelle nehmen Waltons Briefe die Geschichte wieder auf, denn Victor Frankenstein stirbt nur wenig später. Nachdem das Packeis zersplittert und Waltons Schiff die Südpassage freigegeben war, sieht sich dieser auf Grund einer nahenden Meuterei gezwungen, die Heimkehr anzutreten. In der folgenden Nacht kommt Frankensteins Geschöpf an Bord und findet seinen toten Schöpfer. In tiefer Trauer um seine schlechten Taten und Abscheu vor sich selbst kehrt es auf das Eis zurück, um schließlich im Feuer eines Scheiterhaufens den Tod zu finden.

IV. Prometheus-Mythos

Der Titel des Romans Frankenstein or The Modern Prometheus spielt auf den antiken Prometheus-Mythos an, der dort zugleich Schöpfer und Rebell gegen die Götter ist. Er hat eine freiere Bewegung als die Titanen. Das Individuelle an ihm zeigt sich in der Kraft, die unerschöpflich ist. Seine Intelligenz ist rastlos, tätig, kunstfertig, auf Veränderung bedacht und in die Zukunft weisend. Ihm gelingt viel, und er genießt hohes Glück, ein Glück der Anfänge, des unbekümmerten Beginnens und Schaffens, der Wagnisse. Niemals zweifelt er an sich selbst und glaubt sich allen Unternehmungen gewachsen. Daher sein mächtiger Stolz, der nichts anderen verdanken möchte. Seine Kraft ist eine geniale, titanische, der des Zeus verwandt und ihr zugleich entgegen. Er versteht sich als Schöpfer, dem es möglich ist, alles zu verwandeln und Neues zu schaffen, mit Zeus oder auch gegen ihn. Zugleich ist er ein Arbeiter. Ich zitiere aus Friedrich Georg Jüngers Buch Griechische Götter: „Aus der formenden Hand des Prometheus lösen sich selbständige Werke ab. Sein Wirken wird in Werken sichtbar, die unabhängig von ihm bestehen; er versteht sich auf das Produzieren, auf das freie Hervorbringen. Diese Fähigkeit bezeichnet ihn. […] Prometheus ist stolz auf die Werke seines Geistes und seiner Hand.“ Er wendet seine Kraft auf das Höchste, auf das Ganze der Macht. Er begnügt sich nicht mit dem Geringeren. Sein Geist strebt danach, sich hoch hinaufzuschwingen und alles zu umfassen. Er mißt seine Kräfte sogar mit denen des Zeus. Der Gedanke, eine Welt erschaffen zu können, treibt ihn voran. Die Ehrfurcht vor dem Bestehenden ist ihm fremd, ihn leitet die Idee der Freiheit. Selbst die elementarste Notwendigkeit ist kraftlos gegenüber dem Gedanken der Freiheit, der in ihm siegreich hervorbricht und ihn zugleich isoliert. Daher genügt es Zeus nicht, das Werk des Prometheus zu vernichten, er wirft ihn selbst nieder. Um wieder Friedrich Georg Jünger zu zitieren: „Durch die Kette, welche Hephaistos geschmiedet hat, am Kaukasus festgehalten, erleidet er jetzt alle Qualen des Besiegten und Unterlegenen. Der Früchte seiner Mühen sieht er sich beraubt. Der Adler des Zeus zehrt an seiner immer neu wachsenden Leber. Ungebrochen leidet er, bis der das Gebirge durchziehende Herakles den Adler erlegt und den Titanen von seinen Fesseln befreit. Prometheus ist, wie die Großen Titanen, unsterblich, und so ist sein Wollen unsterblich. Zeus kann ihn niederwerfen, aber er vermag weder ihn noch sein Wollen auszulöschen. Er kehrt auf den Olymp zurück, wo er wie ehemals der Ratgeber und Weissager der Götter wird.“

In der Literatur- und Philosophiegeschichte der Neuzeit wird immer wieder der Prometheus-Mythos zitiert. So sieht Lord Shaftesbury in seinem Text Soliloquy (1710) Prometheus als Second Maker, als zweiten Schöpfer nach Zeus, als Sinnbild alles Schöpferischen und Künstlerischen; in The Moralists (1709) wird Prometheus sogar unmittelbar angesprochen, der du, „gestohlnes Himmelsfeuer mit schnödem Lehm vermischend, der Gottheit Antlitz verhöhnst und, in trügerischer Ähnlichkeit mit den Unsterblichen, das zusammengesetzte Ding, den Menschen, bildetest, den elenden Sterblichen, jenen Quell des Unheils für sich selbst und alle anderen.“ Goethes Prometheus (1774) ist der einsame Schöpfer, dessen Rebellion gegen die göttliche Ordnung ihm die eigene Schöpfungstat erst möglich macht, die Götter entthront und den Künstler autonom setzt. Im frühen 19. Jahrhundert verkörpert Prometheus für die englischen Romantiker den Rebellen gegen Religion, Machtmißbrauch, Moral und die Begrenzung menschlichen Strebens. So ist es kein Zufall, daß Lord Byrons Ode „Prometheus“ im Juli 1816 erscheint und Percy Bysshe Shelley sein Drama Prometheus Unbound (erschienen 1820) verfaßt, während Mary Frankenstein niederschreibt. Dort versinnbildlicht Prometheus die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, frei von allen Restriktionen, die von korrupten Regierungen, Vertretern der Religion und einem überkommenen Klassensystem den Menschen auferlegt werden, die Hoffnung auf Freiheit und dauerndes Glück.

V. Deutung als Gothic Novel und Philosophischer Roman

Der Name Prometheus im Titel und das Motto aus John Miltons Epos Paradise Lost (1667) geben zu erkennen, daß es sich bei Frankenstein um mehr als eine Schauergeschichte handeln muß. Das Motto, in dem sich Adam bei seinem Schöpfer, Gott, beklagt, lautet: „Did I request thee, Maker, from my clay / To mould Me man? Did I solicit thee / From darkness to promote me?—” In der Übersetzung von Johann Jacob Bodmer (Zürich 1742): “O Schöpfer, habe ich dich ersucht, daß du meinen Erdkloß zu einem Menschen formirtest, hab ich bey dir angehalten, daß du mich aus der Finsterniß holetest?“ Bereits hierdurch wird deutlich, daß der Roman auch die Sicht des Geschöpfs einnimmt, das seinen Schöpfer anklagt und nach dem Grund fragt, nach dem Sinn seines Lebens. Neben einer Überlebensgeschichte à la Robinson Crusoe oder Kaspar Hauser ist der Text neben vielem anderen auch eine allegorische Fabel über das Werden der Menschheit und das Wesen der Humanität. Mit Hilfe der idealisierten De Lacey-Familie gelingt es dem Geschöpf, sprechen und lesen zu lernen und sogar politische Ökonomie zu verstehen. Ich zitiere aus seiner Selberlebensbeschreibung: "Allmählich gelang mir eine Entdeckung von noch größerer Tragweite. Ich fand nämlich heraus, daß diese Leute imstande waren, ihre Erfahrungen und Gefühle einander durch artikulierte Laute mitzuteilen. Ich erkannte, daß die von ihnen gebrauchten Worte zuweilen Freude oder Schmerz, Lächeln oder Trauer im Gemüt und auf den Zügen der Zuhörer hervorriefen. Dies war in der Tat eine göttliche Fähigkeit, und mich ergriff die heiße Begierde, mit ihr vertraut zu werden.“
Nachdem ihm dies gelungen ist, lernt das Geschöpf zu lesen durch vier Bücher, die es findet. „Glücklicherweise waren die Bücher in jener Sprache abgefaßt, deren Grundbegriffe ich in der Hütte erlernt hatte; es waren Das Verlohrne Paradies, ein Band der Viten des Plutarch und Werthers Leiden. Der Besitz dieser Schätze erfüllte mich mit größtem Entzücken; von nun an studierte unablässig ich diese Geschichten und schärfte meinen Geist an ihnen.“ Neben Volneys Ruines (1791), dem vierten Buch, einer polemischen Kritik an alten und neuen Reichen und vor allem an der Rolle der Religion, die diese stützt, fallen dem Geschöpf ausgerechnet drei für die Aufklärung und das 18. Jahrhundert grundlegende Texte in die Hände, die Volneys Thesen am Schicksal von Individuen anschaulich machen und moralische Prinzipien – ob im privaten oder öffentlichen Bereich – verfechten.
Wie bei Voltaire werden die Ansprüche der Gesellschaft, zivilisiert, moralisch und christlich zu sein und zu handeln, bloßgestellt, wie bei Rousseau ist das Geschöpf von Natur aus gut und wird erst durch die Begegnung mit der Gesellschaft korrumpiert, wird erst durch deren Ablehnung böse. Der lange Monolog schildert das Erwachen der Sinne, den Prozeß der Bewußtwerdung und das Reifen der Bildung analog einem menschlichen Wesen, gegründet auf das Prinzip der Nachahmung. Von daher gesehen, kann der Text zudem als Bildungsroman und psychologische Studie gelesen werden.

Frankenstein, besessen von der Vorstellung, einen künstlichen Menschen zu erschaffen, und dem Wunsch, den Göttern nicht nur das Geheimnis der Schöpfung zu entreißen, sondern über sein Geschöpf beliebig zu verfügen, darf als Sinnbild männlicher Hybris in seinem Drang nach Macht und Herrschaft verstanden werden, als Aristokrat des Ancien Regime, als Wissenschaftler alter Schule, der in gewisser Weise selbst ein Monster ist.
Hierdurch läßt sich eines der Gestaltungsprinzipien des Romans erkennen: Ambiguität. Frankenstein ist zugleich Täter und Opfer, sein Geschöpf zugleich Opfer und Täter, beide sind in gewissem Sinne Doppelgänger (wie auch Frankenstein und Walton). Frankenstein selbst erkennt dies nach der Ermordung Williams: „Fast kam mir das Wesen, das ich auf die Menschheit losgelassen und mit dem Willen und der Macht versehen hatte, schreckliche Taten wie die eben begangene Untat zu vollbringen, wie mein eigener Vampir vor, wie mein aus dem Grab auferstandenes Gespenst, gezwungen, alles mir Teure zu vernichten.“

Neben der Frage nach Zufall, Schicksal und Bestimmung wird im Roman auch die Frage nach Identität und Schuld, und wegen des Milton-Mottos, nach Sinn und Ziel der menschlichen Existenz gestellt. Victor Frankenstein erinnert in vielen Zügen neben Prometheus an die Figur des Satan in Paradise Lost: er lehnt sich gegen die Tradition auf, schafft Leben und versucht sein eigenes Schicksal zu formen. Dies wird im Roman eher skeptisch gesehen. Sein Versuch, die göttliche Allmacht zu brechen, sein kühner Forschungsdrang erweist sich am Ende als völliges Scheitern, als ruchloser Frevel, sein Streben, das er als Wahrheitssuche missversteht, zwingt ihn seine Familie zu verlassen und endet im Ruin. So darf auch Victors Vorname, der Sieger, letztlich als bittere Ironie aufgefaßt werden.

Mary Shelley war zwar von dem Glauben der Aufklärung überzeugt, die Gesellschaft könne durch einen verantwortlichen Umgang mit Macht verbessert werden, fürchtete aber, dass eine unverantwortliche Ausübung von Macht ins Chaos führen müsse. So kritisiert sie zwischen den Zeilen die Überzeugung ihrer Eltern und des jungen Percy Shelley, die wie viele Intellektuelle des ausgehenden 18. Jahrhunderts davon ausgingen, dass ein positiver Gesellschaftswandel zwangsläufig bevorstehe. Frankensteins Geschöpf liest zwar Bücher, die politische Ideen wie die ihrer Eltern vertreten, aber diese Bildung nützt ihm nichts. Mary Shelleys Werk ist weit weniger optimistisch als das von William Godwin und Mary Wollstonecraft. Ihr fehlt der Glaube, dass sich die Gesellschaft selbst verändern könne. Der schwedische Autor Lars Gustafsson beschreibt die Aporie treffend: „Die eine Tendenz wird von Rousseaus Glauben an eine natürliche Gutartigkeit repräsentiert, die sich trotz allem beim ursprünglichen Menschen findet. Dann kommt die andere, die reaktionäre und allmählich auch die religiöse und mystische mit ihrem Zweifel an Vernunft und Wissenschaft.“

VI. Rolle der Naturwissenschaft

Das frühe 19. Jahrhundert zeigte großes Interesse an wissenschaftlichen Entdeckungen und Erkenntnissen und war von der Idee künstlicher Menschen – die bereits in Antike und Mittelalter als Homunculi, Androiden, Golems, lebende Statuen &c. auftraten – fasziniert, was sich in der Literatur der Zeit bei E. T. A. Hoffmanns Automaten, Jean Pauls Maschinenmann oder später bei Maelzels Schachspieler von Edgar Allan Poe manifestierte.

Percy Shelley war schon als Schüler, höchst interessiert an Wissenschaft und Medizin, häufig bei seinem Lehrer Adam Walker, einem unorthoxen Wissenschaftler, und dem schottischen Arzt James Lind gewesen, der sich im Gefolge von Luigi Galvani – wie viele andere Forscher zu Anfang des 19. Jahrhunderts – mit „Froschschenkelexperimenten“ beschäftigte. Vorausgegangen war bereits im Jahr 1800 die Erfindung der weltweit ersten elektrischen Batterie. Mit der Voltaschen Säule, benannt nach dem italienischen Physiker Alessandro Volta, hatte das Zeitalter der Elektrizität begonnen. Voltas Apparatur, die etwa einen halben Meter hoch war, konnte Spannungen bis zu 100 Volt erzeugen, was völlig ausreichte, um damit an toten Tierkörpern ebenso wie an menschlichen Leichen Muskelbewegungen auszulösen. Auch Galvanis Neffe Giovanni Aldini gehörte zu den Galvanisten und führte ungewöhnliche Experimente durch. Am Leichnam eines am 18. Januar 1803 in London hingerichteten Doppelmörders rief er heftige Muskelreaktionen hervor. Die Anwesenden erschraken so sehr, dass sie meinten, der Hingerichtete würde zum Leben wiedererweckt.

Nachdem Percy Shelley 1811 wegen des Pamphlets „The Necessity of Atheism“ (Warum es unumgänglich ist, Atheist zu sein) die Universität Oxford verlassen mußte, wollte er Arzt werden und besuchte die anatomischen Vorlesungen von John Abernethy, einem renommierten Mediziner. Dabei lernte er dessen früheren Schüler William Lawrence kennen, der bald Abernethys professioneller Gegner, Shelleys Leibarzt und einer der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit werden sollte. Die naturwissenschaftliche Kontroverse, damals „Vitalist Controversy“ genannt, war religiös fundiert: einer christlichen, sich auf die Schöpfungstheorie berufenden Auffassung, die das „Life-Principle“ wie John Abernethy propagierte, stand eine strikt materialistische gegenüber. Dem Leben, um Leben zu erzeugen, müsse ein weiteres Element beigegeben werden, eine „feine, bewegliche, unsichtbare Substanz, vielleicht eine überfeine Flüssigkeit analog der Elektrizität“, die in Wechselbeziehung zu der Vorstellung von einer unsterblichen Seele stehe. William Lawrence griff in seinen Lectures Abernethy an und, vertraut mit den Erkenntnissen der französischen Physiologie, erwiderte darauf: „Das Leben ist die Verbindung aller Funktionen und Ergebnis ihrer Betätigung“, was nichts anderes heißt, als daß es keiner zusätzlichen Substanz bedarf: die physiologische Funktion macht das Leben aus, die natürlichen Elemente selbst vermögen Leben zu schaffen.
Der erbitterte Streit zwischen den Befürwortern einer transzendenten Religion und einer materialistischen Wissenschaft führte schließlich dazu, daß Lawrence sein Buch zurückziehen mußte, da er befürchtete, aufgrund der öffentlichen Reaktion, vor allem von seiten der Church of England, wegen Blasphemie vor Gericht gestellt zu werden und seinen Lehrstuhl zu verlieren. Wie Mary Shelley oder auch S. T. Coleridge widerrief er mit zunehmendem Alter seine radikale Überzeugung. Dennoch werden in Frankenstein skeptische philosophische Fragen thematisiert: Was ist menschliches Leben, wenn eine biomechanische Konstruktion ebenso lebt? Was ist Freiheit, wenn ein künstliches Wesen wie ein Mensch handelt und doch an den unsichtbaren Fäden seiner technischen Konstruktion hängt? Was ist das Ich, wenn Frankenstein in dem Geschöpf seinen Doppelgänger erkennt? Was ist Liebe, wenn ein aus Leichenteilen zusammengesetztes Wesen auch Liebe empfindet?

VII. Beziehung zu Ingolstadt

Bei den folgenden Ausführungen beziehe ich mich vor allem auf Gerd Treffers Kleine Ingolstädter Stadtgeschichte.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts setzte in Ingolstadt ein neues Wissenschaftsbewußtsein ein und mit ihm eine Reorganisation der Universität. Im Jahre 1723 begann der Bau der Alten Anatomie, u.a. mit Räumlichkeiten für medizinische Studien, der nach 12 Jahren fertiggestellt wurde. Das Institut erlangte bald ein überragendes Renommee und hatte in Deutschland nicht seinesgleichen, wodurch zahlreiche Studenten und Dozenten angezogen wurden.

1776 wurde der akademische Geheimbund der Illuminaten durch den Ingolstädter Kirchenrechtsprofessor Adam Weishaupt (1748 – 1830) gegründet. Ziel des streng hierarchisch gegliederten Bundes, dessen Mitglieder Decknamen trugen, war, im Sinne der Aufklärung, ein Weltreich der Moral, Tugend und Vernunft. Schnell verbreitete er sich in Deutschland, im Habsburger Reich, in Italien, Polen und Skandinavien. 1784, als er 2400 Mitglieder zählte (u.a. Goethe, Herder und Klopstock), verbot ihn Kurfürst Karl Theodor aus Furcht vor politischem Umsturz; 1785 verlor Weishaupt seine Professur.

Daß Mary Shelley das republikanische Genf als Victor Frankensteins Heimatstadt wählt, mag auf Jean-Jacques Rousseau und seine Lehre von Vernunft und Natur, vielleicht auch auf Johannes Calvin zurückzuführen sein; daß sie Ingolstadt als seinen Studienort auserkor, mag damit zusammenhängen, daß Percy den Illuminaten nahe stand, Kabbala, Hermetik, Theosophie und Alchemie immer noch eine Rolle spielten und die Alte Anatomie äußerst angesehen war.

328 Jahre lang war Ingolstadt das universitäre Zentrum Bayerns gewesen, bis die Universität im Jahre 1800 nach Landshut verlegt wurde, ehe sie 1826 weiter nach München zog.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Wolfram Benda, Universität Erlangen-Nürnberg, 2018


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