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Lohn der Konsequenz - Sternstunde der Archäologie
Quellen der Erkenntnis - Zugewinn der Gesellschaft

Karl Heinz Rieder
Aus dem Katalog zur Ausstellung: Das Geheimnis des Bernstein-Colliers
Ingolstadt 1998. S. 9-18.


Im Frühjahr 1996 zeichnete sich ab, daß im Nordosten des Werksgeländes der Ingolstädter Automobilfirma Audi ein neuer Abstellplatz erstellt werden sollte. Der Zeitdruck unter dem das Vorhaben stand war, wie sollte es anders sein, sehr groß, so daß für die ins Auge gefaßten cirka vier Hektar Fläche kaum ein planerischer Vorlauf und insgesamt nur wenige Wochen zur Abwicklung zur Verfügung standen. Für die mit den Arbeiten beauftragte Ausgrabungsfirma Pro Arch sind derartige Ausnahmesituationen inzwischen Routine; jedes vergleichbare Vorhaben stellt jedoch für sich genommen eine Herausforderung dar. Das Gelände selbst hatte bislang noch keine archäologische „Visitenkarte". Zuletzt war es als unbefestigter Abstellplatz benutzt worden. Ursprünglich diente es der Landwirtschaft und seit dem letzten Jahrhundert lag es am Rande eines Exerzier- und Übungsplatzes. Dass auf diesem Areal Siedlungs- und Gräberfunde zutage treten könnten, lag auch ohne vorausgehende Prospektion auf der Hand. Allgemeine Überlegungen zur Topographie, Bodengüte und Gewässernähe ließen vermuten, daß mit einem wohl flächendeckenden Befundteppich zu rechnen war.

Nördlich der Industriestadt Ingolstadt erstreckt sich eine außerordentlich begünstigte Siedlungskammer, das sogenannte Ingolstädter Becken. Dieses stellt eine gegliederte, lößbedeckte Hügellandschaft mit Juraausläufern und tertiären Sanden der oberen Süßwassermolasse als Untergrund dar. Sie wird von mehreren Tälern durchzogen, die von West nach Ost entwässern. Damit besitzt sie fast ideale Voraussetzungen für eine landwirtschaftliche Nutzung, vor allem unter vor- und frühgeschichtlichen Voraussetzungen. Die südlichste dieser Entwässerungsrinnen trägt die Bezeichnung „Augraben" und bildet die nördliche Grenze der rißeiszeitlichen, lößüberdeckten Schotterterrasse der Donau.

Auf der südlichen Terrassenkante zum Augraben hin wurden in den vergangenen Jahrzehnten bei Bauarbeiten mehrfach frühbronzezeitliche Metalldepots durch Zufall entdeckt. In den 70er Jahren wurde der Fund mehrerer Ösenhalsringe bekannt, und im Jahrzehnt darauf erregte ein Ensemble von Vollgriffdolchen große Aufmerksamkeit. Luftaufnahmen in den nicht überbauten und nach wie vor landwirtschaftlich genutzten Flächen haben seit Ende der 70er Jahre ergeben, daß sich auf der Terrassenkante durchgehende, mehrphasige vor- und frühgeschichtlichen Siedlungsarealen erstrecken.

Diese Rahmenbedingungen ließen für die anstehenden Beobachtungen und Untersuchungen also einiges erwarten. Im Verlauf der Ausgrabung zeigte sich allerdings, daß die Siedlungsbefunde auf der Lößterrasse bereits stark erodiert waren. So konnten lediglich wenige Pfostenreihen, im größeren Umfang allerdings die ehemaligen, hausbegleitenden Materialentnahmegruben festgestellt werden. Im Fundspektrum fand sich Bandkeramik vom Typ Flomborn, Mittelneolithikum in der Fazies Oberlauterbach, Keramik der Altheimer Kultur und der Chamer Gruppe, Siedlungskeramik der mittleren Bronzezeit, der Urnenfelderzeit, der Latènezeit, der mittleren römischen Kaiserzeit und des Mittelalters.

Im Übergangsbereich von der Terrasse zu den anmoorig torfigen Sedimenten des Augrabens fand sich zahlreicher vorgeschichtlicher Siedlungsschutt, überwiegend Silexartefakte, Tierknochen, sowie durch Sedimenteinwirkung stark veränderte Keramik, organische Reste und Hölzer. Die Topographie ließ annehmen, daß exakt an dieser Stelle ehemals eine Übergangssituation zum nördlichen Ufer des Augrabens bestanden hatte. Eine Gesamtbetrachtung der Untersuchungsfläche ließ die antike Nutzung des Geländes in groben Zügen, teilweise sogar detailliert nachvollziehen.

Unter den Siedlungsbefunden der Terrasse zeigte sich in einer kleine Grube ein offensichtlich in situ erhaltenes Tongefäß, welches ein durch den Bagger leicht beschädigtes Bronzeobjekt enthielt. Zunächst wurde vermutet, daß hier ein urnenfelderzeitliches Brandgrab angeschnitten worden war. Dieser „Standardbefund" für den Donauraum um Ingolstadt hätte keine übermäßige Aufmerksamkeit erweckt, sondern wäre dokumentiert und geborgen worden. Das kreisrunde Bronzeblech legte jedoch den Gedanken an ein Gefäß nahe und mahnte zu entsprechender Vorsicht bei der Bergung. Zunächst sollte der Fund wie üblich im Gelände freigelegt, dokumentiert und entnommen werden. Nach der Anlage eines Kreuzschnittes zeigte sich im ersten Quadranten alsbald, dass es sich bei dem Bronzeobjekt um einen Frauenschmuck handelte, um sogenannte Beinbergen. Durch diese Beobachtung war das zunächst vermutete Alter des „Grabes" in Frage gestellt. Als dann statt Leichenbrand einige Bernsteinperlen auftauchten, entschloß man sich zur Blockbergung. Um ganz sicher zu gehen, daß ein immerhin möglicher umgebender Kreisgraben oder sonst eine Einfassung nicht übersehen worden war, wurde zuvor noch das gesamte Umfeld im Planum tiefer gelegt, erbrachte jedoch keinen Befund. Wie richtig die Rücksicht auf den fragilen Bernstein vorgenommene Blockbergung war, zeigte sich bei der genaueren Untersuchung in der Werkstatt.

Obenauf lagen zwei beschädigte, gegensinnig laufende Blechspiralen, deren eine nur als Fragment erhalten war. Eine prähistorische Beschädigung ist nicht ganz auszuschließen, die flache Bettung im Boden sowie das Fehlen von Schulter und Rand des Keramikgefäßes sprechen jedoch eher für eine Störung durch den Pflug. Unterhalb des Blechschmuckes lagen in dem bauchigen, grob keramischen Behälter mit Schlickrauhung, wenige Bronzestiftchen und vor allem äußerst reichhaltiger Schmuck. Er bestand aus rund 2800 Bernsteinperlen. Den weitaus größten Teil bildeten kleine, scheibenförmige und zylindrische Stücke, darunter 400 - 500 Fragmente. Dazu kamen mindestens 86 linsenförmige bzw. flach doppelkonische Perlen von paarweise aufsteigender Größe zwischen einem und vier Zentimetern sowie ein Einzelstück mit über 5 cm Durchmesser. Mindestens sieben Gehängezwischenstücke, sogenannte Perlenschieber, ergänzten den ungewöhnlichen Fund. Bei der Entnahme aus dem Gefäß wurde festgestellt, daß die scheibenförmigen Perlen noch nebeneinander lagen und in dieser Anordnung entweder in das Collier eingebunden waren oder auch gesondert getragen wurden. Auch die kleineren Bernsteinzylinder waren vermutlich in Größenfraktionen aufgefädelt. Neben dem Gefäß wurde ein fragmentierter, fein gezähnter Sicheleinsatz aus Hornstein geborgen.

Singuläre Funde wie den vorliegenden kann man nicht suchen. Opferdepots, Sicherungsverwahrungen oder Niederlegungen aus unterschiedlichen Beweggründen tauchen, so wie sie vergraben wurden, zumeist spontan auf. Im Fall des Ingolstädter Bernsteinfundes erhielt dieser Zufall jedoch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit durch die konsequente Beobachtung eines ohnehin geplanten Bodeneingriffes. Beides, großflächiger Bodeneingriff und systematische Beobachtung setzen uns in die Lage, weiterreichende Gedanken zu diesem außergewöhnlichen Fund anzustellen. Das unmittelbare Umfeld steuert dabei nicht allzu viele Informationen zu seiner zwingenden Interpretation bei. So läßt sich allenfalls der Umstand in den Raum stellen, daß das Depot an erhabener Stelle unmittelbar am Rande eines Moorgebietes niedergelegt wurde. Möglich ist immerhin die Deutung des Befundes als Opfergabe an die Götter der Unterwelt, doch muß diese Deutung spekulativ bleiben.

Nun könnte leicht der Eindruck entstanden sein, die eingangs apostrophierte Konsequenz hätte sich dabei allein auf die Fläche des Abstellplatzes bezogen. Da sie vielmehr allgemein, sowohl landesarchäologisch, als auch wissenschaftssystematisch gesehen als zeitgemäßes Programm eines expandierenden historischen Faches, nämlich dasjenigen der Archäologie zu sehen ist, sollen hier Beispiele angeführt werden, welche die oben gemachten Aussagen und Postulate für eine relativ geschlossene Siedlungskammer im Norden Ingolstadts eindrucksvoll belegen.


Perspektiven der Landesarchäologie

Die Aufzählung der Aktivitäten der Landesarchäologie an der nördlichen Peripherie der Stadt Ingolstadt hat allein in den letzten vier Jahren eine schier unglaubliche Fülle an neuen Erkenntnissen erbracht. Die Auswertung all dessen, was üblicherweise im Rahmen der universitären Ausbildung erledigt wird, kann, und dies muß sicherlich als Manko bezeichnet werden, oftmals Jahre, ja sogar Jahrzehnte in Anspruche nehmen. Aus diesem Grund soll durch die Vorlage erster Übersichtspläne die Ergebnisse schon vorab illustriert werden. Dies alles wäre nicht möglich gewesen, wenn in den vergangenen knapp 20 Jahren in Ingolstadt nicht Arbeitsstrategien entwickelt worden und Organisationsmodelle zum Tragen gekommen wären, die mit Hilfe moderner Dokumentationstechnik den Herausforderungen der Zeit mit ihrem gewaltigen Flächenbedarf durch den Aufbau eines Dienstleistungsbereiches standgehalten hätte. „Exerzierfelder" waren dabei das große urnenfelderzeitliche Gräberfeld und die frühmittelalterliche Siedlung in Zuchering-Ost sowie der Bau der B 16 Neu und die Bahnverlegung südlich von Ingolstadt. Hier mußten sich Wissenschaftler und Techniker an große Flächen, komplizierte Befunde, vor allem jedoch auch an die Schnelligkeit bei der Bewältigung dieser Aufgaben gewöhnen. Zum Erfolg beigetragen hat sicherlich der Weg in die Privatisierung des Grabungswesen, wodurch im Sinne von „Challenge and Response" ein zeitgemäßes Dienstleistungsgewerbe entstanden ist, welches durch die Anwendung modernster Dokumentationmethoden den heutigen Standard geschaffen hat. Dabei hat sich am grundsätzlichen Verfahrensablauf bei großflächigen Bodeneingriffen nichts verändert. Dem fachlichen Gutachten folgt die Prospektion, dann die Freilegung, die Dokumentation und die Bergung. Ein wesentlicher Faktor an der Abwicklung der Maßnahmen war natürlich auch die Vorhaltung von kostengünstigen Hilfspersonal, welches im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereitsteht.

Nach diesem weit gefaßten Exkurs sei der Blick wieder zurückgerichtet auf den Bernsteinfund. Durch die aufgezeigte gesamtheitliche Betrachtungsweise wird klar, daß ein Depotfund wie derjenige von Ingolstadt erst unter dieser Sichtweise seine Hintergründe offenbart. Deutlich wird dabei vor allem, daß das Ingolstädter Becken ein seit Beginn der bäuerlichen Wirtschaftsweise intensiv genutztes Altsiedelland darstellt, welches ideale Existenz- und Wirtschaftsbedingungen bot. Erst durch die Betrachtung großer Flächen und deren historisch/archäologischer Inhalte und Quellen wird einem so manches besonders anschaulich. Zum Zeitpunkt der Niederlegung des Depots hausten hier nicht etwa einige fellbekleidete Wilde, sondern die Siedlungskammer war voll erschlossen und überregional kulturell vernetzt. Man kann deshalb von einem funktionierenden, gesellschaftlichen Miteinander mit allen seinen Parametern ausgehen. Dazu gehörte die Versorgung und der Handel mit den Gütern des täglichen Gebrauchs genauso, wie der Fernhandel und die Beschaffung von Bronze für Handwerksgeräte und Schmuck. Zu letzterem gehörte sicher Bernstein und Gold, welches hier nicht natürlich vorkam. Auch für den Archäologen werden viele Aspekte rätselhaft und geheimnisvoll bleiben. Doch der Weg Rätsel zu lösen und Geheimnisse zu lüften, bedeutet eine konsequente Forschung bei allen Gelegenheiten und Ebenen, die sich bieten. Und dazu gehört nun einmal auch jeder Bodeneingriff, aus welchen Gründen dieser auch immer geschieht. Die aufgeführten Beispiele bestätigen die Richtigkeit, ja die Logik dieser Strategie. Freilich ist dies nicht jedem immer und sofort klar, weshalb es umfangreicher Aufklärungsarbeit bedarf. Die grabende Art, die Kenntnis unseres Herkommens zu erweitern, ist erst für diejenigen durch Einsicht nachvollziehbar, die sich damit auch intensiv beschäftigen. All jene, denen dieses Schlüsselerlebnis zuteil wurde, verfolgen den Erkenntnisgewinn entsprechender Aufmerksamkeit und mit großer Freude.

Das Bodenarchiv ist derzeit jedoch in großer Gefahr, für immer zum Schweigen gebracht zu werden. Ansätze einer systematischen Betreuung aller bodeneingreifenden Baumaßnahmen sind in der Region Ingolstadt derzeit allerdings gegeben. Das Zusammenspiel zwischen einer aufgeschlossenen, mit den historischen Hintergründen vertrauten Verwaltung mit der Fachbehörde ist gegeben und die Politik bekundet ihr Wohlwollen. Erstmals, aber auch letztmals in der Geschichte hat eine Gesellschaft die Chance, ihre Herkunft und ihr Werden zu sehen, zu verstehen und anzunehmen. Wenn hier der Begriff Umweltethik ins Spiel gebracht wird, so ist dies nicht etwa abwegig, sondern hat seine volle Berechtigung. Es ist eine Forderung der Vernunft, die Denkmäler der Geschichte vor ihrer unwiederbringlichen Vernichtung zu dokumentieren, ihre Inhalte zu rezipieren und sie für jedermann nutzbar aufzubereiten.

Allein durch das Engagement von Interessierten, wie das manche noch meinen, läßt sich Archäologie heute nicht mehr betreiben. Leider stehen derzeit reguläre staatliche Haushaltsmittel der Landesarchäologie kaum noch bzw. in verschwindend geringem Umfang zur Verfügung. Das Ausgrabungswesen ist, wie oben angemerkt, seit einigen Jahren im Ingolstädter Raum weitgehend privatisiert und wird von Grabungsfirmen als Dienstleister abgewickelt. Noch nie war dieses Fach so ergiebig, hat Erkenntnisse gezeitigt, die kaum vorstellbar waren und zwar auf hohem Niveau. Durch die rasche Vermittlung der Erkenntnisse von Ausgrabungen und Funden kann heute der Wert von Geschichte einer breiten Öffentlichkeit stets aktuell angeboten werden. Dadurch werden Einsichten gewährt und die Akzeptanz des Mitteleinsatzes gestärkt. Der Ingolstädter Bernsteinfund, auch wenn er sein Geheimnis nicht in allen Einzelheiten preisgibt, stellt ein wohl jedermann nachvollziehbares Beispiel besonders anschaulich dar.

Karl Heinz Rieder

(siehe auch: Weitere Fundbeispiele)


Literatur

H. Rieder u. A. Tillmann (Hsg.), Archäologie um Ingolstadt.
Die archäologischen Untersuchungen beim Bau der B 16 und der Bahnverlegung. Kipfenberg 1995.

K. H. Rieder, Quellen der Erkenntnis - Geschichte des Ausgrabungswesens in Ingolstadt.
Donau Kurier Sonderbeilage 125 Jahre Ingolstädter Zeitung, 26. Mai 1997, S. 61 ff.

M. Bankus u. K. H. Rieder, Eine Sternstunde - Lohn der Konsequenz.
Archäologie in Deutschland, 3, 1997, S. 24. ff.

M. Bankus u. K. H. Rieder, Ein bronzezeitliches Bernsteinkollier als Teil einer Mehrstückdeponierung aus Ingolstadt, Obb..
Das Arch. Jahr 1996 in Bayern, Stuttgart 1997, S. 63 ff.


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