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Dr. Rita Haub:
Matteo Ricci SJ (1552-1610)
“Botschafter Europas” und erster “Weltbürger Chinas”

 
Foto: Stadtmuseum Ingolstadt

Das Missionsideal des Jesuitenordens geht auf seinen Gründer Ignatius von Loyola (1491-1556) zurück und lässt sich als Missionsbereitschaft aller kennzeichnen. Jedes Ordensmitglied verpflichtet sich durch das Gehorsamsgelübde auf das dreifache apostolische Ordensziel: Glaubensvertiefung, Glaubensverteidigung, Glaubensausbreitung. Die Glaubensausbreitung steht gleichberechtigt neben den beiden anderen Zielen; somit ist das Gehorsamsgelübde auch Missionsgelübde und die Berufung zur Gesellschaft Jesu auch Missionsberufung. Der Umfang dieser Missionsverpflichtung für die einzelnen Mitglieder wird von Ignatius genau festgelegt: persönliche Bereitschaft aller, auf den Befehl des Papstes und der Ordensoberen auch zu den Andersgläubigen zu gehen. Wer die körperliche und geistige Eignung besaß, konnte von seinem Oberen in die Mission entsandt werden.
Die Gesellschaft Jesu wurde bald nach ihrer Gründung der größte Missionsorden. Ignatius von Loyola leitete trotz der weiten Entfernung alle Aussendungen der Jesuiten, in welche entlegenen Länder diese auch führten. Briefe wahrten den Kontakt und waren ein wirkungsvolles Mittel zur Erhaltung der geistigen Einheit. Die in der römischen Ordenszentrale eingehenden Briefe und Berichte aus Indien, Japan und anderen Missionsgebieten wurden gesammelt und gedruckt. Die Nachrichten über die Missionstätigkeiten wurden so in ganz Europa verbreitet. Zum einen diente dies dazu, den Angehörigen und Freunden in der Heimat Trost zu spenden. Zum anderen wurden dadurch Kenntnisse über die bislang unbekannten Länder vermittelt und Interesse an der Mission geweckt, so dass der personelle Nachschub gesichert war.
Die Missionsmethode der Jesuiten war neu: Sie überwanden die Überlegenheitsmentalität der christlichen Eroberer, indem sie versuchten, sich im Respekt vor den Menschen den Sitten, Sprachen und Denkweisen eines Volkes anzupassen und sich aller natürlicher Mittel zu bedienen, um Kultur und Mentalität des fremden Landes nicht zuwider zu handeln. Die Kunst der Anpassung (“Akkomodation”) wurde das Geheimnis für die Erfolge der Jesuitenmissionare.
Die Missionierung des Ostens begann 1541, als Franz Xaver (1507-1552) sich als erster Jesuitenmissionar nach Indien einschiffte. Er setzte Maßstäbe durch eigenes Vorbild und die Art und Weise der Verkündigung im Eingehen auf die vorgefundenen Werte. Er wurde zum Vorbild jener Missionare, die damals die Botschafter der europäischen Kultur waren. Er ist der erste in der langen Reihe der Jesuitenmissionare, die zwei Jahrhunderte lang auf ihre Art Menschen aus den Völkern des Ostens für das Christentum gewannen.

Die Chinamission der Jesuiten

Nach China zu gelangen ist genauso utopisch, wie den Mond zu erreichen, verkündete noch 1580 der spanische Franziskaner Pietro da Alfaro. Es gab zwar ältere Berichte über einen Landweg nach China, die legendäre “Seidenstraße”, aber sie wurde nicht mehr begangen.
Der jesuitische Missionspionier Franz Xaver starb 1552 vor den Toren Chinas, ohne sein Ziel erreicht zu haben, das chinesische Festland zu betreten. Seine letzten Worte waren: Herr, ich suche Zuflucht bei dir. Lass mich doch niemals scheitern! (Ps 71,1) Franz Xaver ist nicht gescheitert, denn andere Mitbrüder haben seinen Traum weitergeträumt. Im Todesjahr Franz Xavers wurde am 6. Oktober 1552 Matteo Ricci im italienischen Macerata geboren, der große Bahnbrecher der neuzeitlichen Missionsmethode. Ihm gelang, was Franz Xaver versagt geblieben war, das verschlossene “Reich der Mitte” zu betreten. Er ist der eigentliche Begründer der modernen Chinamission.

Matteo Ricci

Matteo Ricci wurde am 6. Oktober 1552 als ältestes von dreizehn Kindern – neun Söhne und vier Töchter – des Giovanni Battista Ricci und seiner Frau Giovanna Angiolelli in Macerata geboren. Die Riccis waren eine Patrizierfamilie, die drei Jahrhunderte zuvor in den Adelsstand erhoben worden waren und deren Wappen, ein blauer Igel auf rotem Grund, die Bedeutung ihres Namens (“riccio” = “Igel”) verdeutlichte. Der Vater ist Apotheker und handelt daneben mit Gewürzen. Macerata mit seinen etwa 13.000 Einwohnern gehörte damals zum Kirchenstaat und Giovanni Battista Ricci war päpstlicher Friedensrichter und bekleidete auch eine Zeitlang das Bürgermeisteramt. Die aus einem vornehmen Bürgergeschlecht stammende Mutter musste sich um die ständig wachsende Kinderschar kümmern und hatte daneben gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen, so dass ihr nicht viel Zeit blieb, sich um die Entwicklung jedes einzelnen Kindes ausreichend zu kümmern. Deshalb verbrachte Matteo einen Großteil seiner Zeit bei seiner Großmutter, die ihn wie eine zweite Mutter aufzog.
In der väterlichen Apotheke kam er mit chemischen Substanzen in Verbindung, was damals noch keine anerkannte Wissenschaft war sondern zur geheimnissumwitterten Alchemie zählte – die Alchemisten versuchten aus niederen Metallen Gold herzustellen oder ein Elixier für das ewige Leben zu brauen. So hielt man ihn später in China für einen Alchemisten, wenn er in einem provisorischen Labor wissenschaftliche Untersuchungen durchführte.
Das Hauptaugenmerk Matteos galt der Schule. Er war der Klassenbeste, aber auch gleichzeitig bei seinen Mitschülern sehr beliebt. Mit sechzehn Jahren schloss Matteo seine Schulausbildung ab. Der Vater erwartete, dass er ein Jurastudium aufnahm, um später in seine Fußstapfen zu treten und ein hohes Amt in Macerata oder gar in Rom bekleiden zu können. Matteo wollte lieber Priester werden, doch der Vater ließ nicht mit sich reden und schickte ihn nach Rom zum Jurastudium.

Ende 1568 machte sich Matteo nach Rom auf. Nachdem er bereits drei Jahre in Rom wohnte, bat er am 15. August 1571 im Noviziat der Gesellschaft Jesu in S. Andrea um Aufnahme in den Orden.
Ricci selbst hat nie eine Erklärung dafür abgegeben, was ihn bewogen hatte, in den Jesuitenorden einzutreten und nach China zu gehen. Vielleicht war ja das eine, dass er es als eine Art Verpflichtung ansah, den Traum Franz Xavers zu erfüllen, in dessen Todesjahr er geboren wurde. Vielleicht faszinierte ihn ja auch das Interesse der Jesuiten an den Naturwissenschaften, die er von seinem Vater her kannte? Oder die Mehrsprachigkeit vieler Ordensmitglieder? War er fasziniert von den fernen, geheimnisvollen Kulturen in den neuen Missionsgebieten?
Empfangen wurde Matteo Ricci von dem Novizenmeister Alessandro Valignano (1539-1606), der nach Franz Xaver der bedeutendste Organisator der Missionen im 16. Jahrhundert war. Valigniano ging unbefangen auf Menschen und Kulturen in Übersee zu. Er gehörte zu den ersten Befürwortern eines einheimischen Klerus und der Akkommodation, also der Anpassung der Missionare und der Verkündigung an die jeweilige Landeskultur, wozu unter anderem ein intensives Studium der Sprache gehörte. Damit legte er die Grundlagen für den Erfolg der Chinamission durch Matteo Ricci.
Im Sommer 1572 wurde Matteo Ricci zum Studium nach Florenz geschickt, wo er neben dem Studium Alte Sprachen unterrichtete. Im September 1573 kehrte er nach Rom zurück und studierte dort am Collegium Romanum bis Mai 1577 weiter. Die Studenten mussten sich nicht nur mit den lateinischen und griechischen Texten inhaltlich auseinander setzen, sondern auch lange Passagen auswendig lernen. – Dies bildete wohl die Grundlage für Riccis außerordentlich gutes Gedächtnis, das eine seiner größten Gaben war und mit dem er seine Umwelt verblüffte: 400 nicht in einem logischen Zusammenhang stehende Schriftzeichen wiederholte er, vor- und rückwärts, nachdem er sie nur einmal gelesen hatte. Oder er brauchte die Seite eines Buches nur einmal zu lesen, und schon konnte er sie auswendig hersagen. – In seiner 1595 in Peking erschienener Schrift “Westliches Gedächtnistraining” verriet Ricci sein Geheimnis: Er könne alles Geschriebene sowohl vorwärts als auch rückwärts wiedergeben, wenn er es zuvor mit Bildsymbolen assoziiert habe.

Im Jahr 1575 begann Ricci mit weltlichen Studien: Philosophie und Mathematik, Aristoteles und Euklid. Den Kurs für Fortgeschrittene hielt damals ein junger Deutscher ab, der beste Mathematiker seiner Zeit: Christoph Clavius (1537/38-1612). Vom Studium der Geometrie ging Ricci zu dem der Astronomie über, für die damals noch das Ptolemäische System – die Erde ist eine feststehende Scheibe als Zentrum des Planetensystems und wird von den anderen Planeten umrundet – maßgebend war, und weiter zur Herstellung von Sonnenuhren, mechanischer Uhren, Globen und Astrolabien. Dabei legte er eine besondere Begabung an den Tag und erregte als vielversprechender Mathematiker Aufsehen. Er war der Meisterschüler von Christoph Clavius.
Matteo Ricci fragte sich während seiner Studien oft, ob er in Europa bleiben sollte, oder ob er in die Mission gehen sollte zu den neu- oder wiederentdeckten Völkern in Amerika, Afrika und Asien. Ricci äußerte jedenfalls seinen Wunsch gegenüber seinen Oberen, in die Mission nach Übersee zu gehen. Angeregt durch die Berichte und Briefe aus den Missionen, die jeweils gedruckt wurden, wollten viele Jesuiten in die Mission. Er hatte erst nach mehreren Bemühungen im Jahr 1576 Erfolg und bekam die Provinz Indien als Tätigkeitsbereich zugewiesen.

Über Lissabon kam Ricci im September 1578 in Goa an, wo er sein Theologiestudium fortsetzte. 1580 wurde er in Cochin zum Priester geweiht. 1582 war er in Macao, der Stadt der portugiesischen Händler an der Südostküste Chinas zum Erlernen der chinesischen Sprache und es gelang ihm und Michele Ruggieri (1543-1607), erstmals eine Niederlassung im Inneren des abgeschotteten Reiches zu gründen. Vom portugiesischen Macao nimmt die 28 Jahre dauernde Chinamission des Matteo Ricci am 7. August 1582 ihren Ausgang.

In China

Die alte China-Mission der Jesuiten gilt als eines der gewagtesten und umstrittensten Experimente der Missionsgeschichte. 1583 reisten Matteo Ricci und Michele Ruggieri auf legale Weise in das Reich der Mitte. Sie erhielten vom Präfekten der Provinz Kanton die Erlaubnis, sich in Zhaoqing, der westlich von Kanton gelegenen Residenzstadt des Vizekönigs im Südwesten Chinas nieder zu lassen, wo sie zwölf Jahre verbrachten. Hier baute er, manchen Angriffen zum Trotz, 1585 eine Kirche und verfertigte die erste Version seiner Weltkarte. Und hier, in Kanton, beginnt erst die Geschichte des Matteo Ricci. Hier fand er den Schlüssel zum Erfolg der Jesuitenmission: Da der Kaiserhof in Peking zunächst für ihn unerreichbar war, wollte er die meist atheistischen Gelehrten für sich gewinnen.
Matteo Ricci ist als der eigentliche Begründer der Akkomodationsmethode anzusehen. Der italienische Jesuit lernte Chinesisch und studierte die Schriften des Konfuzianismus. Statt seines christlichen trug er einen chinesischen Namen: Li Madou. – “Reich der Höflichkeit” nannte sich China, und für einen Missionar, der Einfluss zu gewinnen suchte, war es oberstes Gebot, die 1.000 Regeln des chinesischen Zeremoniells zu erlernen. Matteo Ricci nahm den chinesischen Namen “Li Madou” an. “Li”, das war sein auf eine Silbe verkürzter Familienname Ri(cci). Die Chinesen sprachen ja ein “R” wie ein “L”. Und “Madou”, das war sein dem chinesischen Klang angepasster Taufname Matteo. – Doch mit den beiden Namen kam er nicht aus, denn ein Chinese hatte außer dem Familiennamen und dem Eigennamen noch den so genannten “Ehrennamen”. Sich beim Familiennamen zu nennen, so wie es die Missionare taten, war eine demütigende Bescheidenheit, die von den Chinesen völlig missverstanden und als plumpe Taktlosigkeit gewertet wurde. Deshalb legte sich Ricci den Ehrennamen “Hsi-t’ai” (“Fernwest”) zu. Und Ricci trug einen vollen Bart und auch die Kleidung chinesischer Gelehrter, deren Lebensgewohnheiten und Umgangsformen er übernahm – so ließ er sich wie die buddhistischen Mönche den Kopf kahlscheren. Typisch für ihn ist seine scherzhafte Äußerung, er bedaure, dass er mit dem Anlegen chinesischer Tracht nicht auch den Schnitt seiner Augen und die Größe seiner Nase habe ändern können.
Matteo Ricci tat alles, um den Eindruck zu vermeiden, das Christentum sei ein europäischer Import. Seinen Katechismus kleidete er in die Form eines tiefsinnigen Dialogs zwischen einem chinesischen Philosophen und einem christlichen Priester. Und seine 1604 in vollendetem Chinesisch verfasste Schrift „Die wahre Lehre über Gott“ stellt die christliche Botschaft als Erfüllung der nationalen Tradition Chinas dar und gilt als ein Werk der klassischen chinesischen Literatur.
Bereits am Anfang seiner Missionszeit fand Ricci großen Zuspruch bei den Chinesen, da er eine Weltkarte mit chinesischen Beschriftungen entwarf. Die vollständige und genaue Version seiner Karte wurde 1602 gedruckt mit einer Breite von über drei Meter und einer Höhe von mehr als 150 Zentimeter. Um in China die Akzeptanz der Karte und des damit verbundenen europäischen Wissens zu erhöhen, positionierte Ricci die Länder derart, dass Europa und Amerika an den Rändern der Karte liegen, während China sich annähernd im Zentrum der Welt befindet. So kam er der chinesischen Vorstellung von China als dem Reich der Mitte entgegen. Er bewies aber damit auch, dass China ein Teil einer größeren Welt war.
1597 wurde Ricci Oberer der chinesischen Mission. Die größte Schwierigkeit, China zu missionieren, lag in der strengen Hierarchie des Gehorsams, an deren Spitze der Kaiser stand. Bei ihm also musste die Erlaubnis zum Predigen und Missionieren eingeholt werden. Ein Jahr später machte Ricci den ersten Versuch, in Peking festen Fuß zu fassen. Aber erst ein zweiter Vorstoß hatte Erfolg. Auf der Fahrt verfasste er eine Denkschrift an den Ming-Kaiser Wan-li (1573-1620), worin er den Zweck seiner Reise darlegte und die Geschenke verzeichnete, die er dem Herrscher überbringen wollte: Ölgemälde, mechanische Uhren, ein Klavichord, prächtig gebundene Bücher, Prismen, Stoffe, Münzen und Kristallflaschen aus Europa. Am 24. Januar 1601 traf die kaiserliche Erlaubnis ein, die ihm – als erstem Europäer – die Tore Pekings öffnete. Den ständigen Aufenthalt in Peking ermöglichten ihm mechanische Uhren, die er dem Kaiser als Geschenk hatte überreichen lassen – den Mechanismus der Uhren in Gang zu bringen und zu halten, behielt sich Ricci selbst vor. Sein Auftreten überwand in wenigen Monaten alle Vorurteile und gewann ihm in hohem Grad die Gunst des Hofes. Ricci wurde ein Freund des Kaisers und bekam den Titel eines “Gelehrten, Heiligen und Weltenlehrers”. Wan-li verlieh ihm die Mandarinwürde und sorgte für seinen Unterhalt – bisher für einen Europäer undenkbar.
Ricci entwarf die Grundlage moderner Missionsstrategie, gründete mehrere kleine Christengemeinden, wobei er aber stets Rücksicht auf die Religion und Kultur des Landes nahm und diese in die Verkündigung und Liturgie einbaute. Er sah in der chinesischen Weisheit deutliche Spuren und Zeichen seines Gottes. Da er nicht nur das Gemeinsame zwischen dem christlichen Glauben und der chinesischen Wahrheit sah, sondern auch naturwissenschaftliche Geschenke mitgebracht hatte, gewann er in Peking bald hohes Ansehen. Und da er nicht nur äußerlich ein Gelehrter des Landes geworden war, sondern auch die Autorität des Konfuzius und die Ahnenverehrung als mit dem christlichen Glauben und der katholischen Praxis als vereinbar hielt – er verstand es, den Chinesen zu vermitteln, dass sie immer schon an Gott geglaubt hätten und dass das Christentum die Vollendung des Glaubens der Ahnen sei –, gestattete ihm der Kaiser die Gründung einer Missionsniederlassung, den Bau einer Kirche in Peking und die Taufe von Mitgliedern der kaiserlichen Familie.
Seine letzten neun Lebensjahre benützte Ricci zu wissenschaftlichen Arbeiten im Dienste des Kaisers, besonders auf dem Gebiet der mathematischen Erdkunde, Kosmographie, Astronomie und Kartographie. Er entwickelte auch die Vorstellung, dass Marco Polos Cathay und China identisch seien. Dies wurde aber erst durch die Landreise des Jesuiten Benedikt Goes 1602-1607 bestätigt.
Matteo Ricci, einer der hervorragendsten Gestalten in der östlichen Missionsgeschichte, starb am 11. Mai 1610 mit 57 Jahren in Peking. Sein Ansehen war so groß, dass bei seinem Tod 300 Glocken läuteten und ihm der Kaiser gegen den Widerstand hoher Eunuchen Grund und Boden für eine Grabstätte zuweisen ließ.

Wissenstransfer zwischen Europa und China im 16./17. Jahrhundert

Als Europa im 16. Jahrhundert den Handel mit Asien auf dem Seeweg begann, wurde neben Waren auch Wissen im künstlerischen, technischen und wissenschaftlichen Bereich transportiert. Dabei kam den Jesuitenmissionaren eine wichtige Rolle zu, denn sie hatten erkannt, dass sie sich bei ihrer Missionierung in China an die Oberschicht wenden mussten. Missionierte Franz Xaver in Indien “von unten nach oben” – er wandte sich an die unteren Bevölkerungsschichten und vor allem an die Kinder, die er zusammenrief und ihnen die christliche Glaubenslehre nahebrachte, um diese dann an die Eltern weiterzugeben –, so betrieben Matteo Ricci und die anderen Jesuiten eine Mission “von oben nach unten”, indem sie die chinesische Sprache lernten, sich in der Kleidung der Gelehrtenschicht anpassten und sich mit den konfuzianischen Klassikern auseinander setzten. – Athanasius Kircher demonstriert dies sehr gut in seiner “China illustrata”, in der er Matteo Ricci zusammen mit dem zum Christentum konvertierten chinesischen Gelehrten Xu Guangqi (1562-1633 abgebildet hat. Die Darstellung sollte Symbol für die fortschreitende Missionierung in China sein und zeigt Riccis Bemühen, sich auch in der Kleidung der Kultur chinesischer Gelehrtenkreise anzunähern, die er für das Christentum zu gewinnen hoffte.

Die Naturwissenschaften waren es letztlich, die jesuitischen Missionaren in China Zutritt verschafften. Ihr Grundsatz war: Glaubensverbreitung durch Wissensvermittlung. Die Einteilung eines Jahres unter Einbeziehung landwirtschaftlicher Aspekte mit Bedacht auf Glück und Unglück bringende Tage war eine der wichtigsten Aufgaben des chinesischen Kaisers. Dafür war ein exakter Kalender unabdingbar. Die Jesuiten konnten den Kalender exakter berechnen als chinesische Astronomen und erhielten dafür wichtige Stellen im kaiserlichen astronomischen Büro: Johann Adam Schall von Bell wurde mit der Reform des chinesischen Kalenders und Ferdinand Verbiest mit der Neuausstattung der Sternwarte in Peking beauftragt.

Die Europäer brachten neue geographische Kenntnisse nach China und stellten Länder vor, die bis dahin unbekannt waren. So stellte Ricci die erste Weltkarte in China her, auf der das Land China sich gemäß der Vorstellung der Chinesen tatsächlich in der Mitte der Welt befindend dargestellt ist. Diese große Planisphärenkarte ist die erste in China, auf der der amerikanische Kontinent abgebildet ist. Diese Karte vermittelte in China neben dem geozentrischen Weltbild der Renaissance auch karthographische Grundlagen wie die Kugelgestalt der Erde oder geographische Koordinaten und erweiterte in Europa die Kenntnis über Ostasien beträchtlich.
1591 übertrug Ricci die vier klassischen Werke von Konfuzius bis Menzius ins Lateinische und verschaffte Europa damit tiefe Einblicke in das chinesische Denken. Konfuzius, der Erzieher schlechthin, diente dem Erzieher Ricci auch als Vorbild für seine Bildungsidee. Kreativität war die Triebfeder, durch die er seine Ausstrahlungskraft zum Ausdruck bringen konnte.
Die europäischen Wissenschaften dienten den Jesuiten als Wegbereiter für die Mission. Es wurden gezielt in den verschiedenen Wissenschaften gebildete Missionare für China ausgewählt, um die chinesischen Gelehrten mit westlichen Techniken und Wissen beeindrucken zu können. Wissenschaftlich-technische Kenntnisse bildeten fortan ein Kriterium für die Aufnahme in die Chinamission. Man wollte den chinesischen Eliten auf der einen Seite imponieren, auf der anderen Seite aber sollte den Chinesen anhand der Überlegenheit der westlichen Wissenschaften und Techniken die Überlegenheit des christlichen Glaubens gegenüber ihrer eigenen Religion aufgezeigt werden. Und so konnten sich 150 Jahre lang die Missionare aus der Gesellschaft Jesu am Hof des chinesischen Kaisers unentbehrlich machen: als Verfertiger von Uhren und Kanonen, als Landvermesser, Diplomaten und Dolmetscher in den Verhandlungen mit dem in Sibirien vordringenden Russland. Die Jesuiten waren phantasievoll und fertigten zahlreiche Instrumente an. Ihre Geräte hatten den Vorzug, dass sie präziser waren als die bis dahin in China benutzten. – Diese wissenschaftlich-technischen Arbeiten verschlangen zwar die besten Kräfte, die kaum unmittelbar missionarisch tätig sein konnten. Dennoch kamen sie der Mission zugute. Denn die Unentbehrlichkeit der Pekinger Jesuiten als Experten auf vielen Sektoren und als Vermittler europäischer Wissenschaft bewirkte, dass die Mission erst, von vorübergehenden Erfolgen abgesehen, im großen und ganzen stillschweigend toleriert wurde.
Die Missionsarbeit der Jesuiten in China wurde in den Berichten vor allem Matteo Riccis festgehalten, die von seinem Ordenmitbruder Nicolas Trigault unter dem Titel “Historia von Einführung der Christlichen Religion in dass große Königreich China durch die Societet Jesu” 1617 veröffentlicht wurden. Neben einer Beschreibung Chinas (Regierung, Wissenschaft und Bildung, Sitten und Gebräuche, Kleidung, Religionen, Kunst) umfasst das Werk eine Beschreibung der Chinamission bis zum Tod Matteo Riccis in Peking 1610. Mit dieser “Historia”, die Trigault mit einem kurzen Bericht über den Tod und das feierliche Begräbnis des bedeutendsten Chinamissionars abschloss, entfachte er in Europa eine Missionsbegeisterung sondergleichen. Vor allem an den Fürstenhöfen erwies sich das Buch als spannende Lektüre, die Abenteuerlust, Neugier und Sehnsucht nach exotischen Ländern befriedigte, denn das Wissen über das mysteriöse Riesenreich ganz weit im Osten war zu Beginn des 17. Jahrhunderts gering.

Die Jesuiten transferierten im Zuge ihrer Chinamission nicht nur Wissen von Europa nach China, sondern auch von China nach Europa und gaben dadurch Auskünfte zur geographischen Struktur, den Bewohnern, der Kultur und Geschichte. Dies geschah vor allem durch Veröffentlichungen, wie zum Beispiel Trigaults “Historia” oder Kirchers “China illustrata”. Neben den Publikationen über China schlug sich der Wissenstransfer auch in Briefwechseln zwischen den Jesuiten mit ihren Ordensmitbrüdern als auch mit europäischen Gelehrten, Philosophen und Politikern nieder. Allerdings war der Wissenstransfer von China nach Europa nur ein “Nebenprodukt”, das eigentliche Ziel war der umgekehrte Weg. Trotzdem war er von großer Bedeutung, denn auf diese Weise erhielt Europa Informationen und Eindrücke über China hinsichtlich von Bevölkerung, Topographie, Kultur, Politik und Wirtschaft. Die Missionsberichte der Jesuiten bildeten zum einen die Grundlage der Chinakenntnisse im damaligen Europa und entfachten zum anderen Interesse und Begeisterung für das Reich der Mitte.
Matteo Ricci war als Begründer der Chinamission einer der bedeutendsten Vertreter europäischer Ideen in China. Zum anderen aber war er es auch, der zum ersten Mal die Kenntnisse über Gesellschaft, Geschichte und Kultur der Chinesen der späten Ming-Zeit nach Europa brachte.
Die Chinesen würdigen Matteo Ricci heute nicht, weil er ein Missionar und Jesuit war, sondern für das, was sie in ihm sehen wollen, einen “Botschafter Europas” und ersten “Weltbürger Chinas”.

Dr. Rita Haub M.A., Historikerin,
Redakteurin und Leiterin des Referats Geschichte & Medien der Deutschen Provinz der Jesuiten


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