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Neuerscheinung der Stadtchronik "Ingolstadt im Nationalsozialismus"

Historische Blätter Ingolstadt - Jahrgang 14 - Ausgabe Nr. 130 vom 01.01.2024

Ein Etappensieg im Ringen um das großangelegte Vorhaben, das Wissen um die Geschichte der Stadt Ingolstadt, von der vorgeschichtlichen Zeit bis heute, auf den neuesten Stand der historischen Forschung zu bringen, ist mit dem Erscheinen eines weiteren Teilbandes zur Zeit des Nationalsozialismus erreicht worden.

Der Ingolstädter Historiker Gerd Treffer und das Zentrum Stadtgeschichte mit dem Stadtarchiv Ingolstadt legen den Band 1933 – 1945 vor.

1888 Seiten und 206 Kapitel braucht der Autor, um die bewegte Geschichte der Stadt in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft darzustellen, von der mit Fackelzügen und Heil-Rufen zelebrierten „Machtübernahme der Nazis“ und den „goldenen Zeiten“ nach Ende der Arbeitslosigkeit mit Lagerfeuern der Hitlerjugend, den von Leni Riefenstahl filmisch dokumentierten Reichsparteitagsinszenierungen, den olympischen Spielen 1936 bis zu den Bombenteppichen und dem Zusammenbruch des 1000-jährigen Reichs in Ingolstadt.

Es ging darum einen anschaulichen Bilderbogen aus vielen Farbpunkten zu schaffen, zu zeigen, was die Stadt bewegte, beseelte, begeisterte, betrübte; wie die große Politik vor Ort, in Ingolstadt, empfunden, aufgenommen wurde – aber vor allem auch, wie es sich in Ingolstadt leben ließ; Schule, Freizeit, Theater, Sport, Landwirtschaft, Wirtschaft in den zwei, drei größten Unternehmen, Parteiaufmärsche, parteiinterne Intrigen, die großen Baumaßnahmen, die Stadtplanung, das kirchliche, das soziale Leben … Kurz: ein pointillistisch gehaltenes Gesamtbild der schrecklichen Aspekte (der Judenhetze, der Euthanasie, des Reichspogromtages), der heiteren Seiten (des spezifischen Ingolstädter Faschings, der Volksfeste) und herausragender „Charakterköpfe“ Ingolstädter Persönlichkeiten.

Das Buch
Mit „Wilde Jahre“ ist der Aufbruch in die „neue Ära“ überschrieben, der die „Machtergreifung im Kleinen“ darstellt, Schutzhaft und KZ Dachau als Instrumente beschreibt, sich eine Stadt untertänig zu machen. Unter „Pomp und Prunk“ wird der Versuch geschildert, nationalsozialistische Sinnstiftung für den neuen Staat zu betreiben und mit dem „Kult der alten Kämpfer“ eine nicht vorhandene Tradition vorzugaukeln. Beklemmend ist das Kapitel „Facettenreicher Antisemitismus“. Fast anekdotisch mutet der Wirbel um die „Führerdurchfahrten“ an, wenn „Er“ mit seiner Autokolonne durch die Stadt fährt, womit es ein Ende hat, als die Reichsautobahn München – Berlin direkt an der Stadt vorbeiführt. (Das beklagt besonders die Juweliers-Gattin und spätere NS-Frauenschaftsführerin Schuh, die bei einer der „Durchfahrten“ den Konvoi am Schliffelmarkt stoppt, um dem Führer einen Blumenstrauß zu schenken, wovon der Fotograf Schölzl ein Bild macht und es in seinem Schaufenster aushängt).

Eigene Kapitel sind der SA („in Saft und Kraft“ unter ihrem Anführer Wilhelm Dittler, der das Sagen in der Stadt hat), dem Röhmputsch (der die örtliche Partei durcheinander wirbelt und den Kreisleiter Otto Koch – später Oberbürgermeister von Weimar – ums Amt bringt), einem gescheiterten Attentäter Julius Uhl, SA, der Hitler erschießen sollte, was der Reichskanzler selbst im Reichstag bestätigte, gewidmet. Dargestellt werden die Satelliten der Partei, etwa die SS, das NSKK (Nationalsozialistische Kraftfahrer-Korps), das NSFK (Nationalsozialistische Flieger-Korps), die NSF (Nationalsozialistische Frauenschaft), die DAF (Die Deutsche Arbeitsfront), die alle Gewerkschaften geschluckt hat und deren Untergliederung, die KDF (Kraft durch Freude), die monopolisiert die Bevölkerung bespaßt. Eigene Kapitel schildern die Gleichschaltung der Presse und die besondere Rolle des Donauboten.

Die eigentliche Stadtentwicklung findet ihren Niederschlag in der Schilderung einzelner Baumaßnahmen (etwa Rathaus, Friedhof, Donauhalle, Volksbad, Autobahnzufahrt als Nucleus eines neuen Stadtviertels). Als Ingolutopia sind die Planungen für einen großen Ingolstädter Hafen (der „Hafen für München in Ingolstadt“, an der internationalen Wasserstraße, dem Rhein-Main-Donaukanal, der durch Ingolstadt führt) geschildert, auch das große Kongresszentrum mit Kulturzentrum an der Donau.

Detailliert geschildert werden die großen Ingolstädter Unternehmen, die DESPAG, das Reichsbahnausbesserungswerk, aber auch viele kleine Handwerks- und Handelsunternehmen. Ausführlich dargestellt wird die Entwicklung der Sparkasse, der Stadtwerke einschließlich der Strom-, Gas- und Wasserversorgung, des Schlachthofes in Friedens- wie in Kriegszeiten, der Müllabfuhr, des überregionalen und regionalen Verkehrsnetzes.

Aufgezeigt werden viele statistische Elemente: das Bevölkerungswachstum, die Motorisierung (und die neuen Verkehrsregeln, auch die erwartbare maximal erträgliche Geschwindigkeit, die ein Automobillenker zu beherrschen vermag), oder Schülerzahlen.
Beschrieben werden die nationalsozialistischen Erziehungsziele, die Wirkung von HJ und BDM – die nicht nur aus Lagerfeuerromantik und Wehrertüchtigung bestanden, sondern auch neue Umgangs- und Kennenlernformen zwischen Jungen und Mädchen zeitigte.

Viele Passagen stellen die durchaus neuartigen Formen der Freizeitgestaltung und der Urlaubsgestaltung mit „Kraft durch Freude“ vor, Sport in neuen Vereinen und in neuer Form aber auch die Arbeit des Theaters (unter wechselnden Intendanten bis hin zum vorletzten Kriegsjahr) und das Kunstgeschehen in der Stadt (das sich als kreatives Element rasch erschöpft einkapselt und durch von außen hereingebrachter Volkskunst aus Wanderausstellungen verdrängt wird).

Ein besonderes Thema stellt das Kino dar mit den sog. unpolitischen Heiterkeitsfilmen und den unterschwellig hochpolitisch und manipulativen Streifen eines „Hitlerjungen Quex“ oder Riefenstahls Reichsparteitags-Mammutwerk und den örtlichen Präsentationen mit Flammenschüsseln und Ehrenwachen vor dem Ingolstädter Licht-Spiel-Haus.

Geschildert wird – aus den örtlichen Quellen – die Rolle der Kirchen im Abwehrkampf, im Ringen um Überleben und im durchaus erfolgreichen Widerstand. Hervorgehoben werden die verbrecherischen Euthanasiemaßnahmen, die auch in Ingolstadt angeordnet wurden: das Buch listet bewusst namentlich die Opfer auf. Es schildert auch den Umgang mit „unliebsamen Zeitgenossen“ – da heißt es: „Gesindel ins Arbeitshaus“.

Natürlich werden sämtliche Wahlen, Volksabstimmungen auf Reichsebene im Detail beschrieben und mit den jeweiligen Ingolstädter Ergebnissen verglichen und analysiert. Besondere Darstellung erfährt dabei die „Neue Deutsche Gemeindeordnung“ im Kapitel „Ein neuer Zug im Rathaus“.

„Stolze Jahre“ steht über den Kapiteln, die die Zeit von 1936 bis Kriegsausbruch schildern. Es geht um das „Leben in der Stadt“ und in der „Bewegung“. Um Kundgebung und „auf jeden Fall: Vorbeimarsch“. Um Sport und Spiele: Schmeling, Olympia 1936 – aber auch Ingolstadt hat einen Weltmeister, einen Meisterschützen. Es geht um „den Führer und den Duce“ und italienische Gastarbeiter. Dann übernimmt der Führer den Oberbefehl über die Wehrmacht. Es folgen die Kapitel „Zuerst die Sudeten, dann Böhmen und Mähren“.

Ein besonderes Kapitel (Nr. 105) ist überschrieben mit „Die Reichspogromnacht – Ingolstädter Art. Von der Erbärmlichkeit der Naziführung dieser Stadt“. Zwei Kapitel der Folge lauten „Bauen in Erwartung eines Krieges“ und „Bauen in den Krieg hinein“.

Der dritte Block des Buches ist schlicht mit einem Wort überschrieben: „Schrecken“ und beschreibt den Auftakt, nennt die Namen der ersten in Polen „für Führer und Volk“ gefallenen Ingolstädter. Die ersten Kapitel berichten vom „Gewöhnen an den Kriegsalltag“, Verdunkelung, Auslandssenderabhörverbot, Mangelverwaltung, Lebensmittelkarten (und wie man damit zurechtkam), von Kleidersorgen und wie die Mode sich damit arrangierte. Berichtet wird von Kohle- und Heizsorgen und wie nun alles „gesammelt“ werden musste: Metallsammlung (Kirchen-glocken und Kupferdachrinnen), „Lumpen“, Kastanien und Bucheckern (für Öl), letztlich warme Unterhosen für die Ostfront, zuvor noch hatte man „Bücher für die Front“ eingesammelt.

Dennoch schildert das Buch viele Aspekte, die „an der Heimatfront“ in Ingolstadt spielen: Arbeiten unter Kriegsbedingungen, Klatsch in der Stadt, der lässt sich auch durch den Krieg nicht aufhalten. Und einige Sonderthemen, etwa den gefallenen Ingolstädter Professor Pretzl, eine weltweit anerkannte „Koryphäe der Koranwissenschaft“.

Es folgen, sozusagen dem Ende zueilend, Kapitel zum ersten „Kriegsparteitag“, den man in der Region Ingolstadt noch hoffnungsvoll feiert, zur Eroberung Dänemarks und Norwegens, zum „Westfeldzug“ und der Wahrnehmung des Kriegsgeschehens in Ingolstadt. Dann geht es um den Luftschutz in seinen unterschiedlichen Ingolstädter Formen (und die Befehlskette „von Göring zu Listl“), vom „Schlachthof als Rädchen in der Kriegswirtschaft“.

Mit, wie es die Ingolstädter Zeitung schildert, dem „Krieg in Russland“ und „Krieg den USA“ beginnt das Ende. Trotzdem gibt es noch „Kultur im Krieg“, ein Theaterleben. Es gibt eine nach wie vor aktive Parteiarbeit. Ein Kapitel müht sich, das Los von „Kriegsgefangenen und Fremdarbeiten“ festzuhalten. Dann kam Stalingrad (festgehalten in Zeitungsbalken). Kapitel 200 ist überschrieben mit „Bomben auf die Stadt“ und schildert die Chronologie der Luftangriffe. Ein weiteres heißt „Des Donauboten letzter Seufzer“, weitere: „Erschießungen am Auwaldsee“, „Der Höhepunkt des Wahnsinns“, das letzte dann „Kriegsende – US-Einmarsch – Schadensbilanz“.

Das Projekt
Das große historische Projekt einer mehrbändigen „Geschichte der Stadt Ingolstadt“ wurde von Siegfried Hofmann, dem Nestor der Ingolstädter Historiker, dem langjährigen Direktor von Stadtmuseum und Stadtarchiv und berufsmäßigen Stadtrat und Kulturreferent der Stadt Ingolstadt, einem weit über die Stadtgrenzen und in wissenschaftlichen Kreisen bundesweit bekannten Historiker begründet. Er hat mit seinen Bänden, Band 1: „Geschichte der Stadt Ingolstadt von den Anfängen bis 1505 (IN, 2000) und Band 2: „Geschichte der Stadt Ingolstadt: 1506 – 1600“ (IN 2006) dafür den Grund gelegt.
An der Fortführung „Ingolstadt von 1600 bis 1806“, also der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs und des Kurfürstentums Bayern (Band 3) arbeitet Hofmanns Nachfolgerin, die Leiterin des Zentrum Stadtgeschichte Dr. Beatrix Schönewald. An der Epoche 1806 bis 1918 Edmund Hausfelder, nunmehr im Ruhestand, früher Leiter des Stadtarchivs.
Dem folgt als abschließender Band 5 die Geschichte der Stadt Ingolstadt 1918 – 1972.

Fertiggestellt ist davon bereits der Teilband „Ingolstadt in der Weimarer Zeit“ (2228 Seiten; Gerd Treffer; IN 2021), an den nun nahtlos der vorliegende Teilband „Ingolstadt im Nationalsozialismus“ anschließt.
Diesem soll 2024 ein Sonderband folgen, der sozusagen im Nachgang zum Nationalsozialismus, die „Entnazifizierung“ in Form einer Darstellung der Spruchkammer – Akten aus den Jahren 1946 ff. bearbeitet und editiert. Dem soll die Darstellung des „Wiederaufbaus Ingolstadt“ nach 1945 folgen.

Der Autor
Jahrgang 1951 aus München. Drei abgeschlossene Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Magister Artium als Historiker (tätig am Lehrstuhl Professor Thomas Nipperdey), Dr. phil. als Politikwissenschaftler (bei Professor Nikolaus Fürst von Lobkowicz), Dr. jur. als Rechtswissenschaftler (bei Professor Arthur Kaufmann). Lehrauftrag an mehreren Schulen und Universitäten. Ab 1977 Pressesprecher der Stadt Ingolstadt.

Autor von rund 150 Büchern zu politikwissenschaftlichen und verwaltungswissenschaftlichen sowie zu historischen Themen mit Schwerpunkt französische Geschichte. Autor zahlreicher Hörbilder des Bayerischen Rundfunks und von Drehbüchern fürs Fernsehen.

Übersetzer von zwei französischen Staatspräsidenten (Valery Giscard d‘Estaing und Francois Mitterrand) und eines Premierministers (Michel Rocard) sowie zahlreicher literarischer Werke aus dem Französischen.
Ausgezeichnet als Ritter des Ordens für Kunst und Literatur (Chevalier de l‘Ordre des Arts et des Lettres), ferner mit dem Nationalen Verdienstorden (Ordre National du Merite) Frankreichs sowie der Cusanus-Medaille des Tschechischen Parlaments. Verfasser zahlreicher Bild- und Textbände zur Geschichte der Stadt Ingolstadt und Herausgeber des Historischen Blätter der Stadt Ingolstadt.

Bibliographie
Geschichte der Stadt Ingolstadt. Bd. 5 1918 – 1972
Teilband 2: „Ingolstadt im Nationalsozialismus. 1933 – 1945“
herausgegeben von der Stadt Ingolstadt, Stadtarchiv; Ingolstadt 2023 1888 Seiten (vier Bücher mit ausführlichem Registerband)
ISBN: 978 – 3 – 910437 – 00 – 5
99 Euro im Buchhandel und erhältlich an der Kasse des Stadtmuseums Ingolstadt, Auf der Schanz 45.