Seiteninhalt

Johannes BÖSCHENSTEIN - Hebraist. Premium-Wissenschaft und Ingolstadt
von Gerd Treffer

Historische Blätter Ingolstadt - Jahrgang 13 - Ausgabe Nr. 126 vom 01.11.2023

Dieser Mann war Sohn eines Esslinger Fischers und Absolvent der dortigen Lateinschule, schreibt Christoph Schöner im Biographischen Lexikon der Ludwig – Maximilians-Universität, und „nächst Reuchlin… der zu seiner Zeit bedeutendste Förderer der hebräischen Studien in Deutschland“. Der 1472 in Esslingen am Neckar geborene Mann, der sich nach dem berühmten Universitätschronisten Johann Nepomuk Mederer, dem Verfasser der Annales Ingolstadiensis Academiae (Ingolstadt, 1782) 1505 als ein ausgewiesener Hebräisch-Lehrer, in Ingolstadt niederließ, entfaltete dort über viele Jahre eine Lehrtätigkeit, die nicht nur „Studenten“ zu Gute kam, sondern auch herausragende Professoren umfasste. Johannes Böschenstein war in Sachen hebräische Sprache eine solche Autorität, dass er eine „Akademie für sich“ darstellte. Schöner schreibt: „Mit ziemlicher Sicherheit besaß er keine besoldete Lektur, da sein Name niemals in den Besoldungslisten erscheint“. Schöner schreibt auch: Zu Mederers Angabe, Böschenstein habe sich 1505 in Ingolstadt eingefunden, gäben die Akten des Universitätsarchivs keine Auskunft. Böschenstein war einfach da, unbestreitbar. Und es ist überraschend, aber bezeichnend, dass ihn trotz aller mangelnder Hinweise auf eine formale akademische Position das Lexikon der Ingolstädter Professorenschaft als hiesigen Professorenführt.

Was er in Ingolstadt tat, ähnelt, wie gesagt, einer Privatakademie, die sich hohen Ansehens erfreute - vielleicht gewissermaßen an das Ursprungsideal aus der Zeit der Entstehung von Universitäten als Gemeinschaft Lernender und Erkenntnisstrebender und Wissensteiler anknüpfte. Jedenfalls zählen zu seinen Ingolstädter Schülern, Männer wie Sebastian Sperantius, der betagte Kaspar Aman und Johannes Eck.

Johannes Eck, der (spätere) große Gegenspieler Martin Luthers, der den Reformator bei der Leipziger Disputation (1519) „mit überlegener dialektischer Gewandtheit und kühner Berechnung“ (M. Weitlauff) in der Frage nach dem göttlichen Rechts des Papsttums und nach der Autorität der allgemeinen Konzilien in die Enge und zum Bruch trieb, und 1520 die päpstliche Bannandrohungsbulle Exsurge domine erwirkte, sie nach Deutschland brachte und in einer Ingolstädter Offizin drucken ließ, war zweifellos einer der bedeutendsten Theologen deutscher Sprache. Verschiedene Quellen sprechen davon, Böschenstein sei Tischgenosse Ecks gewesen.
Sebastian Sperantius gehörte zum Kreis humanistischer Gelehrter, der sich um den deutschen Erzhumanisten und poeta laureatus Konrad Celtis bildete; 1503 hatte er als Nachfolger Lochers in Ingolstadt die Poetiklektur übernommen und bis 1506 (dem Zeitpunkt der Rückkehr Lochers nach Ingolstadt) versehen, woraufhin er nach Salzburg zog und Kanzler des dortigen Kardinals wurde (insofern konnten seine Hebräisch-Stunden bei Böschenstein nur kurze Zeit gewährt haben).

Dennoch: solche Männer zu unterrichten spricht auch für die fachliche Qualität des Lehrers. Böschenstein selbst hatte Hebräisch seit 1489 bei Moses Böllin aus Weißenburg und Johannes Reuchlin gelernt, war 1492 zum Priester geweiht worden und betätigte sich wohl ab 1498 als Hebräischlehrer.

Reuchlin spielte gewiss eine wichtige Rolle im Leben Böschensteins. Der herausragende Gelehrte Reuchlin war Begründer des humanistischen Schuldramas in Deutschland, er war der erste christliche Kabbalist, er war der beste Kenner der griechischen und der hebräischen Sprache nördlich der Alpen, er war der Begründer der Hebraistik an den deutschen Universitäten – all dies billigt ihm Stefan Rhein in seiner Reuchlin-Würdigung im Lexikon der Ingolstädter Hochschullehrer zu und fügt an: „Nicht wegen solcher Verdienste haben Ulrich von Hutten, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Ricarda Huch oder Max Brod sein Loblied gesungen. Beeindruckend war und ist vielmehr der Einsatz (Reuchlins) für den Erhalt der jüdischen Literatur, als er in einem im Oktober 1510 abgeschlossenen Gutachten als einziger gegen den durch Johannes Pfefferkorn angestoßenen Plan, alle Schriften der Juden (im deutschen Kaiserreich) zu vernichten, votierte“. Reuchlin ist es zu verdanken, dass nicht alle Talmud- und Thora-Rollen vernichtet wurden; er forderte vielmehr deren Studium und die Auseinandersetzung, ihre Kenntnis und Prüfung. (Moderne Edition: A. Leinz von Dessauer (Hrsg.); Gutachten über das jüdische Schrifttum; Konstanz, 1965). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gutachtens war Böschenstein in Ingolstadt und sicher auch mit Johannes Eck im Gespräch über die Kontroverse, die sich daraus entwickelte, die zum hitzigsten Diskussionsthema in der ganzen akademischen Welt nicht nur in Deutschland wurde und in einen fast zehn Jahre dauernden Prozess mündete, der letztlich die päpstliche Kurie beschäftigte.

In der erbittert, in vergifteter Atmosphäre geführten Debatte verliehen die von Crotus Rubeanus, Hermann von dem Busche und Ulrich von Hutten verfassten „Dunkelmännerbriefe“ (Epistulae obscurum virorum“) – gegen Reuchlins Prozessgegner – der humanistischen Sicht eine Stimme. Böschenstein (so Christoph Schöner im Biographischen Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität) ergriff „in der Reuchlin – Kontroverse (für diesen) Partei“ – naturgemäß, sozusagen, galt er doch „zu seiner Zeit (als) der bedeutendste Förderer der hebräischen Studien in Deutschland“. Man warf übrigens Böschenstein vor, „weil man einem geborenen Christen eine so eingehende , liebevolle Beschäftigung mit der hebräischen Sprache nicht zutraute, dass er ein getaufter Jude sei, und er musste sich gegen diese damals schwerwiegende Beschuldigung in einer eigenen Schrift (‚ Ain diemitige Versprechung… seinem lieben Bruder Andree Osiander zugesandt) verteidigen; ja man belegte ihn einmal mit Gefängnisstrafe , weil er im Reuchlin’schen Streit seine Verachtung der Feinde wissenschaftlichen Strebens zu heftig aussprach“ ( Ludwig Geiger, Böschenstein, Johannes; in: Allgemeine Deutsche Biographie,1876).

1520 (genauer: am 23. Juni dieses Jahres) erging das Urteil. Von seiner Prozessniederlage erfuhr Reuchlin in Ingolstadt – Böschenstein war da schon – 1518 – übrigens auf Reuchlins Empfehlung hin auf die Hebräischlektur in Wittenberg berufen worden. Die Gefechtslagen zwischen den Universitäten waren recht unklar. Böschenstein war – Empfehlung Reuchlin – nach Wittenberg gekommen. Zugleich versuchte Reuchlin, Philipp Melanchton zum Wechsel nach Ingolstadt (und mithin zum Abfall von Luther) zu bewegen (was bekanntlich misslang). Andererseits hatte die Universität Ingolstadt – offensichtlich auf Betreiben des Herzogs – Reuchlin eine Stelle als Griechisch– und Hebräisch– Lehrer angeboten, die hälftig von der Universität und vom Herzog – getragen wurde, was dem durch den Prozess auch finanziell schwer belasteten Gelehrten Luft verschaffte. In Ingolstadt wohnte Reuchlin im Haus des Theologen Johannes Eck (siehe oben) gerade mit der päpstlichen Bulle gegen Luther (Exsurge Domine) von Italien her heimkehrte.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten – Rhein nennt „Einsamkeit, fehlende Bibliothek, Geldknappheit“ – gewann Reuchlin durch die eigene Lehrtätigkeit neue Kraft. Bei seinen Vorlesungen zu Xenophon und Aristophanes, bei seinem Sprachunterricht in Griechisch und Hebräisch „hörten ihm nach eigenen Angaben täglich zwischen 300 und 400 Studenten zu. Im April 1521 verabschiedete sich Reuchlin dann schon wieder aus Ingolstadt, übergab seinen Lehrstuhl an Johann Forster und lehrte bis zu seinem Tod in Stuttgart am 30. Juni 1522 (also vor 300 Jahren) an der Universität Tübingen.

Böschenstein war zu diesem Zeitpunkt auf dem Sprung von Nürnberg nach Heidelberg – denn, nach der langen, stabilen Phase in Ingolstadt führte er ein Wanderleben von einer Hebräisch-Lektur zur nächsten.

Schon 1514 war er zumindest vorübergehend in Augsburg; dort erschien jedenfalls sein „Elementale introductorium in hebraecas literas“ (noch Jahre später, 1520 klagt Michael Hummelberg aus dem Reuchlin-Umfeld, in dem „banausischen Ingolstadt“ sei „noch niemals ein griechisches oder hebräisches Werk gedruckt worden, (daher) müsse er für seine Schüler beide Sprachen aufschreiben oder drucken“ (Rhein). Jedenfalls lässt Böschenstein sein Hebräischlehrbuch in Augsburg drucken, „das außer dem hebräischen und jüdisch-deutschen Alphabet einzelne grammatikalische Regeln und Übersetzungen einiger christlicher Gebetsstücke enthält“ (C. Schöner).

1518 wurde Böschenstein nach Wittenberg berufen. Dort veröffentlichte er die „Hebraicae Grammaticae institutiones“, die er Kurfürst Friedrich dem Weisen widmete. Lange hielt es ihn wieder nicht. 1519 trat er, von Melanchton empfohlen, eine Stelle in Nürnberg an, ging dann im Dezember 1521 an die Universität Heidelberg auf eine Hebräisch-Lektur, die er nach sieben Monaten wegen schlechter Besoldung gegen Antwerpen eintauschte, um bald nach Zürich zu gehen, wo Huldrych Zwingli bei ihm Unterricht nahm, 1523 war er zurück in Augsburg, zog aber rastlos, meist als Schulmeister beschäftigt, weiter nach Nördlingen (1523 bis 1525) und Nürnberg. 1527 ist er in Basel, 1529 wieder in Nürnberg, 1533 kommt er nach Nördlingen, wo er (ab 1536) bei seinem Sohn Abraham, der dort Schulhalter war, seine letzten Jahre verbrachte. (Er war zwar 1492 zum Priester geweiht worden, hatte aber geheiratet und mindestens diesen Sohn.)

Bekannt wurde Böschenstein auch für sein (ebenfalls 1514 und ebenfalls in Augsburg erschienenes) „Neu geordnet Rechen biechlin“, ein Lehrbuch für Kinder, das in mehreren Auflagen erschien. Weniger Bedeutung hatten seine Übersetzungen einiger Passagen des Alten Testaments ins Deutsche („Septem psalmi poenitentiales ex hebraeo ad verbum latine gemaniceque translati“, Augsburg, 1520). Schließlich stammen vier Kirchenlieder aus seiner Feder.

1540 starb (wohl) in Nördlingen der Mann, der in Esslingen in dem Jahr zur Welt gekommen war, da in Ingolstadt Bayerns Erste und lange Zeit einzige Universität gegründet worden war.

In seinem Fazit zum Abschnitt über den Humanismus an der Universität Ingolstadt schreibt Siegfried Hofmann in seiner großen Geschichte der Stadt Ingolstadt (Bd. II): „ Die Universität Ingolstadt war von Anfang an ein Zentrum des Humanismus gewesen.“ Und zu Reuchlin und Böschenstein: „Die Lehre des Hebräischen als Ursprache der Bibel und der Kabbala, mehr als ein Indikator humanistischer Gelehrsamkeit, erreichte in Ingolstadt mit Johannes Böschenstein,, Johann Reuchlin und deren Schüler Johannes Forster eine Spitzenstellung“.